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x | Verwandlungen in Zürich | |||
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Begleitheft zum vierten der Zürcher "Wege zur Heimat" 1998
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Inhalt |
1. Geburt > 2. Kindheit > 3. Jugend > 4. Mündigkeit > 5. Ernüchterung > 6. Weisheit > 7. Heimkehr > Das achte Bild
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Geburt |
Im Herzen von Zürich befand
sich vor nicht allzulanger Zeit ein Quartier, in welchem hunderte von Menschen wohnten, in
verwinkelten und dicht aneinandergedrängten Häusern. Das alte Stadthaus stand mittendrin mit einem auffälligen
Treppengiebeldach. An seiner westlichen Mauer angebaut war die Bauhütte der Stadt. Vor
dem Eingang des Stadthauses öffnete sich ein Platz mit einem Brunnen. Märkte wurden dort
abgehalten, vor allem mit Korbwaren, Fässern und Gefässen aller Art. Hinter dem
Stadthaus, zwischen der Bauhütte und der seeseitigen Stadtmauer befand sich der
langezogene, spitzwinklige Bauplatz.
Steinmetze behauten im Freien Sandsteinquader für die Fundamente und Mauern von Häusern,
Zimmerleute richteten Balken zu für die Böden und Dächer. Das Quartier hatte eine
sonderbare Eigenheit. Es besass nur einen einzigen schmalen Ein- und Ausgang in der
nordöstlichen Ecke zur Limmat hin; ansonsten war das Quartier vollkommen abgeschlossen;
im Norden durch das Fraumünsterkloster und eine an seine Umfriedung angelehnte
Häuserzeile, im Westen durch die Stadtmauer und den dahinterliegenden Fröschengraben; im
Süden durch den See und im Osten durch die Limmat. Man konnte sich in diesem Quartier
gefangen oder geborgen fühlen wie in einer Fischreuse oder einem bauchigen Gefäss. Das
Stadtviertel hiess Kratzquartier und man berichtet, dass es den Namen von den geflochtenen
Korbwaren bekam, den Kratten und Chrätzen, die - wie das Quartier selber - eine Art
Sackgasse sind für die Dinge, die hineingelegt werden. Das Kratzquartier wurde restlos zerstört, es versank fast wie das sagenhafte Atlantis. Kein Stein ist von ihm am alten Platz; einzig der Brunnen blieb erhalten. Er steht heute versteckt, unscheinbar und weit weg von seiner ursprünglichen Quelle zwischen Fritschi- und Zypressenstrasse; ein Bauchnabel der Heimat, der Geschichten versunkener Zeiten erzählt. Das war einmal unsere Heimat? Heute steht im Bereich, wo sich einst der alte Bauplatz befand, das mächtige Gebäude der Nationalbank. Stolz und herrisch ragt es auf. Historisch, das heisst: von der Zeitlichkeit aus betrachtet, sind die Bewohner des alten Kratzquartiers, aber auch die Bauherren der Nationalbank und des neuen Stadthausquartiers längst gestorben. Die Stimmbürger, die am 30 April 1899 ablehnten, auf dem Kratzplatz das Zürcher Kunsthaus zu errichten, aber auch die Stimmbürger die am 6. Juni 1915 befürworteten, dass dort die Nationalbank errichtet würde: Sie sind alle tot. Untergegangen wie das Kratzquartier. Wir stehen jetzt an ihrer Stelle. Und morgen, wenn wir unser Quartier in dieser Welt abgebrochen haben, stehen unsere Kinder an unserer Stelle. Die Geschichte geht weiter, Wort um Wort, Satz um Satz. Nie aber ersetzt das Neue das Alte. Das Alte behält seinen Ort, auch wenn nun Neues seinen Raum einnimmt; vergangene Werte behalten ihren Wert auch wenn nun neue Werte gelten, jedes vergangene Heute bleibt Heute, auch wenn es heute schon wie gestern scheint, so wie vergangenen Worte und vergangenen Sätze ihre Orte weiter einnehmen, während wir weiterlesen. Nicht nur behalten diese Worte ihre Gültigkeit: Wir vergegenwärtigen sie in der Bewegung des Lesens, und vergegenwärtigen Heimat in der Bewegung unseres Lebens. Viele Zeitgenossen priesen den Abriss des Kratzquartiers als Befreiung aus einer beklemmenden Situation. Den wachsenden Menschen drängt es aus dem Korb der Gebärmutter, hinaus in Zeit und Raum dieser Welt. Schrecklich sieht dieser Geburtsvorgang aus, grausam scheinen die Wehen, die das Neue austreiben. Wie eine Baustelle, mit Klammern und Kranen und Baggern, Schmutz und Schlamm und tiefen Gräben, aus denen die Röhren und Kanäle hervorschauen, wie Adern und Gedärme aus der Wunde eines sezierten Körpers. Die Angst ruft: "Wo war der Heimatschutz, als das Kratzquartier verschwand?" Oder: "Wo war der Heimatschutz, als ich jung, hübsch, geborgen und glücklich war?" Aber lassen wir uns nicht täuschen: Das Leben im embryonalen Kratzquartier-Atlantis war nicht das Paradies. Auch das "Haus zur Hölle" stand einst dort, in welchem der Henker wohnte. Die Hülle kann zur Hölle werden, wenn der Mensch ihr verhaftet bleibt, und nicht in die eigene individuelle Initiative ausschlüpft. Das Wachsen des Menschen gleicht einer Abfolge von Phasen, deren jede ihre unantastbare Gültigkeit für sich und für das Ganze bewahrt.
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Kindheit |
Die Mauern des Kratzquartier
sind niedergerissen. Frei und offen scheint der Platz des entbundenen Lebens. Überall
kann sich der ungebundene Mensch hinwenden, alle Schiffe besteigen, die am Bürkliplatz
landen, mit jeder der vielen Brücken den Fluss überqueren, jede Strasse nehmen, deren
grösste zum Hauptbahnhof führt. Von ihm gehen Züge überall hin, alle Möglichkeiten
sind da. Auch in den Auslagen der Geschäfte entlang der Bahnhofstrasse glänzen, locken und schillern die Möglichkeiten
in allen Farben. Vieles gibt es zu entdecken. Es scheint, dass der ungebundene Mensch
seine Freiheit erkennt in all diesen Möglichkeiten; eine unbestimmte Freiheit, weil
Wunsch und Wille noch nicht unterschieden sind. Der Mensch spiegelt sich im Glas des
Schaufensters und sieht hinter seinem transparenten Spiegelbild all die wundervollen
Waren. Die Menschen tanzen und schwärmen vor den Schaufenstern und in den Geschäften vor den Gestellen wie
Kinderfische vor einem bunten Korallenriff. Und man weiss nie, wenn man ihnen dabei
zuschaut, ob sie in ihre eigene Vorstellung so verliebt sind, in ihr Hüpfen und Tanzen,
oder ob die glänzenden Dinge nach den Menschenkindern fischen, sie sich von den Dingen
umwerben und gerne fangen lassen, an ihrem unsichtbaren Silch zappeln, begeistert und
taumelnd vor Glück. Ideal und Ding, Vorstellung und Wirklichkeit, Wunsch und Erfüllung
scheinen im kindlichem Spiel vereint. |
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Jugend |
Was hat Heinrich Pestalozzi
ausgerechnet an der Bahnhofstrasse verloren? Ist es nicht zynisch, dass der grosse
Erzieher und Anwalt der Verdingkinder mitten im Einkaufsrummel vor einem Warenhaus steht?
Man möchte meinen, man habe Pestalozzi zu Lebzeiten in seiner Heimatstadt schon genug
verlacht, verspottet, mit Missachtung und Gleichgültigkeit gestraft. Nun ist er gar in
Bronze gegossen dazu verdingt, den Eingang des globalen Warenhauses zu schmücken. Dies
war nicht bösartige Absicht, denn als die Statue 1899 aufgestellt wurde stand an der
Stelle des Warenhauses noch das Linth-Escher-Schulhaus.
Der Zeitgeist schafft sich seine trefflichsten Bilder selber. Meist sehen sie aus wie
Unfälle.
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Mündigkeit |
Wenn man die alten Karten
Zürichs studiert, hat man den Eindruck die Mehrheit der Zürcher hätten einst in einem
Kloster gelebt. Fraumünsterkloster, Barfüsserkloster, Augustinerkloster, Predigerkloster
und Oetenbachkloster bildeten weitläufige Anlagen in der sonst eher gedrängten Stadt.
Sie sind bis auf wenige Überreste verschwunden. Das Stadthaus befindet sich im früheren
Geviert des Fraumünsterklosters, Zentralbibliothek und Stadtarchiv auf dem Boden des
Predigerordens. Die Amtshäuser I bis IV der Stadt Zürich stehen auf dem Gelände des
einstigen Klosters Oetenbach. Wo sich die Zellen der Mönche befanden sind heute die
Büros der Beamten zu finden, Archive, Schalterräume, Sitzungszimmer, Gefängnis und
Kaserne der Polizei. Der Klosterbruder ist heute Beamter; Äbtissinnen und Chorherren sind
Stadträtinnen und Chefbeamte. |
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Ernüchterung |
Im Blick auf Verwandlungen
der Heimat bietet der Lindenhof als höchste natürliche Erhebung und Keimzelle der
Innenstadt reichlich Stoff. Keltische Fluchtburg, Römerkastell, Pfalz, autonomes
Jugendhaus, Tiefgarage für 610 Autos, oder im "Kriegsbetrieb" Zivilschutzbunker
für zehntausend Menschen. Wir könnten sogleich eine Reihe weiterer Worte anfügen,
welche die Grundthemen dieser Erscheinungsformen des Lindenhofes benennen: Erbe,
Tradition, Erhaltung, Schutz, Vorsorge; ihrem Wesen nach alles Begriffe, die auf die
Überlieferung des Bestehenden an die Nachkommenschaft deuten. Bei der Überlieferung an
einen aktiven Sendevorgang zu denken, analog einer Radio- oder Fernsehübertragung von
einem Sender zu einem Empfänger, ist ein technokratisches Bild von Tradition. So verquer
wie etwas das technizide Gerede vom Schlüsselcode der Gene als der Erbinformation des
Menschen. Tradition wird nicht übermittelt wie man eine Datei von einem Computer zum
nächsten überträgt. Tradition ist Einweihung in die Erfahrung gelebten Daseins. Aber
nicht einmal das: Zuerst ist Tradition einfach nur gelebtes Dasein. Dies ist manchmal
ernüchternd, denn es kann sein, dass niemand da ist, mit welchem man die Weihe und das
Fest der Tradition teilen und feiern kann. Und so bleibt einem nichts übrig, als sie bei
sich zu behalten und sich an sie zu halten; ohne weiteres. Zum ersten Mal empfindet der
Mensch dann die grausame Tiefe der Einsamkeit: Nicht nur mit dem Leid, sondern auch mit
der Freude allein zu sein. Glücklich zu machen hiesse doch, das Glücklich-Sein zu
teilen. Plötzlich wird klar, dass dieses Teilen des Glückes, das zuvor noch in Kloster,
in Staat und Ehe als Gesetz unumwunden galt - als unbewusste Technik der Liebe da waltete
- durchbrochen ist, nicht mehr technisch sein kann, sondern von allem Technischen befreit,
ganz wie Liebe ist: Umsonst. |
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Weisheit |
Das Helmhaus hat seinen Namen von der ungewöhnlichen Form des
Gebäudes, welches hier bis zum Jahre 1791 stand. Das Dach des alten Helmhauses reichte
damals - wie ein langes Keid - von der Firsthöhe der Wasserkirche bis fast zum Boden. Das
Wort "Helm" ist etymologisch von "heln" hergeleitet, einhüllen. Und
tatsächlich hüllte das Helmhaus nicht nur den Eingang zur Wasserkirche, sondern auch den
grössten Teil ihrer zum Grossmünster liegenden Ostfassade ein. Zunächst diente das Helmhaus als schützender Vorraum zur Wasserkirche,
später als Kaufhaus, zu Beginn des 19. Jahrhundert wurden in der heutigen Vorhalle
jeweils am Freitag Baumwolle, Leinen, Flachs und Hanf verkauft - damit sich auch die
Bewohner einkleiden und einhüllen konnten. Die Helmhaus-Konditorei war in den ersten
Dekaden des 20. Jahrhunderts eine Attraktion nicht zulezt auch wegen seines Juniorchefs,
Emil Hegetschweiler, der als Schauspieler den kleinbürgerlichen Zürcher Lebensstil und
Dialektkolorit inszenierte. Heute beherbergt das Helmhaus der Stadt Zürich wechselnde
Ausstellungen des zeitgenössischen Kunstschaffens. |
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Heimkehr |
Die Wasserkirche ist das eigentliche Herz der Stadt Zürich. Errichtet
wurde sie auf einer Insel in der Limmat. Nach der Gründungslegende ist der Felsen, den
die Kirche heute ganz bedeckt, der Hinrichtungsort der Zürcher Stadtheiligen Felix und
Regula. In den Sagen heisst es, eine Quelle entspringe auf der Insel, eine Quelle heiligen
Wassers, die zwar manchmal versiegte, aber doch immer wieder von Neuem entsprang. Die
Wasserkirche war bis ins 18. Jahrhundert nur über die Münsterbrücke erreichbar, ein
hölzerner Steg, der im 13. Jahrhundert errichtet wurde und ausschliesslich dazu diente,
dass die Bewohner der Stadt zu Fuss die Limmat überqueren konnten. Die Benutzung der Münsterbrücke zu Pferde war strengstens
untersagt. Mehrmals wurde die Wasserkirche neu gebaut, in der Reformation ihr schlichter Schmuck entfernt, später
Galerien eingebaut, um sie zwischen 1613 und 1917 als Bürgerbibliothek der Stadt zu nutzen. Eine Kunst- und
Raritätensammlung waren darin untergebracht, eine Münzsammlung und die Pantoffeln der
ersten Fraumünsteräbtissin Hildegard zu bewundern. Ausserdem wird in Reiseberichten der
Zeit erwähnt, dass dort auch Mumien, Skelette und die "Haut einer Frau"
ausgestellt waren. Seit 1942 ist die Wasserkirche
wieder einfach Kirche.
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Das achte Bild |
Ein Walfisch schwimmt auf
Zürich zu. Er sieht aus wie eine kleine Insel, auf welcher ein Haus errichtet wurde, ein
Paar sich umarmt und eine Wiege steht. Das Auge des Wals ist eine Sonne und eine
Wasserfontäne entspringt aus ihm. In vielen Märchen wird das Traumbild beschrieben des
Lebens auf dem Rücken eines grossen Fisches, dem Leviathan, lebendiger Ort des Lebens.
Der Walfisch ist aber in biblischen Bildern immer auch Zeichen der glücklichen Heimkehr.
Jonah wird von einem Wal verschluckt, als sein Schiff in einen Sturm gerät und er über
Bord geworfen wird. Der Walfisch bringt ihn zurück und spuckt ihn an Land. In vielen
Bildern von Daniel Ambühl taucht immer wieder der "Weltfisch " auf. Er ist ein
Bild für den Menschen, der im Fliessen der Zeit, im Wasser, unterwegs ist, und der Welt,
die er in seinem Wunsch in sich trägt, da draussen in der Wirklichkeit begegnen möchte.
Manchmal ist dieser Mensch stumm und sprachlos wie ein Fisch, manchmal aber auch mit
anderen zusammen zappelnd in einem Schiff, dem Gleichnis der Gemeinschaft der Menschen. So
ist auch in diesem Schlussbild der Fisch und das Schiff im Bild des Wals vereint.
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Wiege
der Heimat
Essay von Thomas Primas |
Lasst
die Liebe von der Liebe träumen
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