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Daniel Ambühl   Bildweg   Wege zur Heimat   Zürcher Sagen   Dokumente

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x Zürcher Sagen

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Begleitheft zum zweiten der Zürcher "Wege zur Heimat" 1998


 

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Inhalt

1.  Felix und Regula  >
2.  König Karl und der Hirsch 
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3.  Kaiser Karl und die Schlange 
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4.  Der Zauber des Edelsteins 
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5.  Der Hirsch 
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6.  Das grüne Seil 
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7.  Die Reformation 
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Das achte Bild  >
Essay: Heimatliche Wege  >

 

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Felix und Regula

Die Gründungslegende der Stadt Zürich besagt, dass die Stadtheiligen, Felix und seine Schwester Regula, aus Ägypten stammten. Sie waren zur Römerzeit zum christlichen Glauben übergetreten und starben während der Christenverfolgung in Zürich. Am Ort ihrer ersten Wohnung steht heute die Wasserkirche. Über ihren Gräbern liess Karl der Grosse das Grossmünster erbauen. Jahrhunderte hindurch pilgerten Menschen zu diesem Ort, bis Zwingli zur Reformationszeit diese Pilgerreisen unterband, weil ihm der Devotionalienhandel und der äusserliche Rummel zuwider war. Zwingli liess die Gräber entfernen. Doch das Andenken an die drei Stadtheiligen Felix, seine Schwester Regula und Exuperantius, ihr treuer Diener, ist heute noch lebendig. Aufrecht stehend, sehen wir sie vor uns, nach der Enthauptung, ruhig, ja, gelassen, als wäre nichts geschehen, ihre Köpfe unter dem Arm haltend: Dies ist das Siegel des Staates Zürich, das noch heute auf allen offiziellen Dokumenten verwendet wird. Das erste Zeichen des Kantons. Ein schwieriges und ernstes Zeichen, fast wie das grosse Z am Anfang des Namens Zürich. Wenn wir von billigen Scherzen absehen, ist die Sage von Felix und Regula nicht nur eine ernstzunehmende Sache, vielmehr auf den ersten Blick geradezu eine Horrorgeschichte. Die drei Stadtheiligen werden ausgepeitscht. Sie werden in siedendes Öl gesteckt. Flüssiges Blei wird ihnen in den Mund gegossen. Man zeigt ihnen das grausame Folterrad, dessen technische Finessen man eigens zu ihrer Folterung erfunden hat, und schliesslich werden sie - fast müsste man es als Mildtätigkeit bezeichnen - enthauptet.
Was soll das? Was hat eine solche Geschichte mit Heimat zu tun? Als Mahnung wird das Bild gerne für diese und jene Zwecke herangezerrt. Als Zeigfinger der Moral zum Beispiel: Man solle Menschen auf der Flucht aufnehmen und vor Verfolgungen ihres Glaubens wegen schützen. Wer ist aber "Man"? Sind das wir selber, oder der Staat, also die anderen? Hat Zürich nicht viele Flüchtlinge schon aufgenommen? Dennoch blieb die Bedrohung bestehen und wenn nicht hier so doch andernorts wurden weiterhin Menschen verfolgt, gefoltert, getötet. Heimat kann nicht Heimat sein, solange irgendwo auf der Welt noch Unrecht geschieht. Man folgert daraus leicht: Wir müssten dafür sorgen, dass alles Unrecht aus dieser Welt verschwindet, getilgt wird. Doch können wir dies nicht, solange noch ein Funken Unrecht in uns selbst ist. Wo also wollen wir das Unrecht tilgen? Nur im anderen. Oder eventuell sogar - und zu allererst - in uns selber? Wir wissen zwar wenig, aber doch, dass wir selber nicht gerecht sind. Nicht so gerecht jedenfalls, wie wir es uns wünschten.
Hat es bisher etwas genützt, dass man an den Glauben appellierte? Wurde deshalb die Welt besser? Oder durch die Gesetze: Wurde die Welt durch sie gerechter? Im Gegenteil, meinen wir manchmal: Die Welt wird immer schlechter und ungerechter. Oder werden etwa nur wir selber immer schlechter und ungerechter? "Ja! Die gute alte Zeit!", seufzt man dann. So seufzt man aber nicht in Zürich. Denn in der guten, alten Zeit, da waren doch Felix, Regula und Exuperantius, die sterben mussten, weil sie die römischen Göttern nicht anbeten wollten. Willkommen im Zollhaus der Gegenwart!
Nach dem Märtyrium von Christus, leben wir heute oft in der Stimmung, dass man nur trotzdem glauben kann, trotz allem. Man glaubt noch aus Trotz. Aus Widerwillen gegen die Welt ist der Glaube aber eine grosse Bitterkeit, eine trostlose, hoffnungslose, giftige Verzweiflung: Glaube als Rache.
Glauben aber ist Vertrauen in diese Welt, Treue. Denn ohne dieses Danken im Glauben heisst die Alternative: "Nein, das ist nicht meine Heimat!" Verzweifelt wird dann Heimat abgelehnt , weil man sie, so, wie sie ist, nicht will. Der Widerwille gegen das Sosein der Heimat führt schliesslich dazu, dass wir tatsächlich auswandern oder ins innere Exil emigrieren, um irgendwo in der Ferne, auf der Flucht vor der Heimat, nach der Billigkeit eines Happyends zu suchen und in diesem Kitsch und dieser Kopf- und Herzlosigkeit zu verwesen. Aber auch: Hinterlassen wir auf der Flucht dann nicht ein furchtbare Leere und ein Nichts an dem Ort, wo jeder in seiner Heimat leben könnte? So sind wir heute oft abwesend am Orte, wo wir sind. Unsere Türen uns Fenster sind verriegelt für die Nachbarn, für Fremde und Freunde. Abweisend sind wir dann selber, und damit genau so, wie wir unsere Heimat nicht wollen. Nur Einbrecher haben noch Zutritt in unser verrammeltes Leben, weil sie die Tricks kennen, um uns aufzuknacken. Sie dringen, weil wir abwesend sind, in uns ein, Sie entwenden unsere liebstes Gut, durchforschen und zerwühlen unsere geheimsten Schubladen und hinterlassen danach in uns ein chaotisches, verwirrliches Durcheinander.
Felix, Regula und Exuperantius erzählen uns eine Geschichte über die Standhaftigkeit. Sie sind jedoch keine Helden, die sich für grosse äussere Ideale aufopfern. Für die Nichtigkeit der Treue zu ihrem Glauben sind sie bereit unterzugehen. Heute würden wir das wohl leichthin als Dummheit bezeichnen, als Uneinsichtigkeit, Sturheit oder gar Rechthaberei. Schnell fallen wir auf das Niveu des Urteilens und Beurteilens, wenn es uns unangenehm wird, die Sache zu bedenken und wenn wir nicht die Grösse haben die verbindliche Anwesenheit des ganzen Menschen als Kern jeglicher Heimat anzuerkennen.

 

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König Karl und der Hirsch

Karl der Grosse ist der gerechte König, der wahrhaftig Erkennende, Gönner und Stifter des Guten. Seine Verbundenheit mit Zürich wird in einer Sage bezeugt, die von einer Jagd berichtet, welche der König einst in der Gegend von Zürich veranstaltete. Dabei hatte er einen Hirschen entdeckt von einer Grösse und Stattlichkeit, wie er noch nie zuvor einen sah. Karl und seine Jagdgenossen setzten hinter ihm her. Doch der Hirsch war behende und ausdauernd. Die Verfolger konnten ihn nicht erwischen, bis er plötzlich auf einer Lichtung im Wald stehenblieb und auf die Voderläufe niederkniete. Und als die Hunde der Jäger in der Lichtung eintrafen blieben auch diese wie angewurzelt stehen und knieten ebenfalls auf ihren Voderbeinen nieder, so auch die Pferde der verduzten Jäger. Als schliesslich Karl der Grosse in dieser Lichtung erschien, und das seltsame Geschehen wahrnahm, näherten sich ihm aus dem Wald zwei Einsiedler, die dem Jäger-König erzählten, hier seien vor Unzeiten drei Menschen begraben worden, die als Märtyrer für ihren Glauben starben. Da liess Karl der Grosse, die Gebeine der drei in einer würdigen Stätte begraben und darüber das Grossmünster errichten. Auch der König kniete also letztlich nieder. Und gerade dieses Niederknien des Jägers, dieses Sich-klein-machen, gab König Karl den Zunamen "Der Grosse".
Wie aber kann ein König ein Andenken widmen an drei Leute, die so sinnlos in den Tod gegangen sind? Haben sie doch für nichts Praktisches hier gekämpft. Für keinen Staat, keine neuen Gesetzte, weder für das Sozialwesen noch für den Umweltschutz. Ganz unpraktisch und stur und zurückgezogen haben sie für den eigenen Glauben gekämpft, für etwas, was weder bewiesen noch widerlegt werden kann, für etwas also, von dem viele sagen, es gäbe es nicht. Dagegen war Huldrich Zwingli viel Praktischer veranlagt. Er übersetzte die Bibel, liess bei Froschauer drucken, predigte, galt als Erfinder des Sozialwesens als Mitgründer der Zürcher Universität usw. Oder wurden die drei heilig gesprochen, weil sie gegen die Römer waren, die von ihnen verlangten, ihre Götter anzubeten. War das eine Art von Subversion gegen den Staat und nur Trotz und Sturheit, sich den Gesetzen dieser Welt zu verweigern. Dann wäre Felix und Regula also die Zürcher Ur - Revolutionäre, aber ganz unpraktische, ja eigentlich gläubige Anarchisten, was nicht nur als Wortkreation eine absurde Idee ist. Und dann ist auch ihr Tod nicht minder absurd.
Märtyrium meint: eine Entschlossenheit, auch für etwas unterzugehen, sich für etwas aufzuopfern, das hier gar nicht nützlich ist, ja, von dem man nicht einmal etwas weiss. Das Märtyrium ist ganz bescheiden. Scheinbar unnötig. Märtyrium heisst: Wir ertragen den Schmerz, dass wir diesem Unnützen, das Vertrauen oder Liebe heisst, nur bedingungslos treu sein können. Hat der Mensch der für die Liebe unterzugehen bereit ist, nicht der Liebe gerade Geltung verschafft? Wir wissen es nicht. Aber wir wären untröstlich, könnten wir nicht auf solche Menschen zählen.

 

Kaiser Karl und die Schlange

Als Karl der Grosse Kaiser war, wohnte er oft in Zürich im Haus zum Loch unweit des Grossmünsters. Es ist unnötige Zeitverschwendung, bei solchen Erzählungen immer ängstlich zu fragen: "Stimmt das? Wann war das? Ist das historisch bewiesen?" Solche Fragen sind vielmehr hysterisch als historisch. Denn was haben wir von einem Beweis? Wir müssen doch letztlich an jeden Beweis auch glauben. Und fraglich ist, ob man überhaupt noch etwas von der Grösse des Gegenstandes zu erkennen vermag, wenn man nur an die eigenen Beweise glauben will, und wenn man wie ein Fallensteller und Jäger die Sachen, denen man begegnet, zu Tode hetzt. Die Grösse von Kaiser Karl ist, dass er sich von dem Hirschen, dem er nachjagte verwandeln liess. Er widmete von da an sein Gehör und sein Gesicht nicht mehr seinem eigenen Leisten und Jagen, er war nicht mehr befangen vom Zwang des Beweisens, sondern ganz den Menschen und Dingen zugewandt, die ihm begegneten.
Es heisst also, Karl der Grosse habe neben dem Eingang des Hauses zum Loch, eine Glocke anbringen lassen. Zur Mittagszeit, wenn er im Hause weilte um das Essen zu sich zu nehmen, durfte jedermann, der Recht begehrte am Seilzug der Glocke ziehen, um beim Kaiser Gehör zu finden. Zur Grösse dieses Kaisers gehört, dass er sich beim Mittagessen stören lässt. Der wahre König wird nicht essen, solange auch nur einer seiner Untertanen hungrig ist, weil dieser Untertan sich in einer Leidenssache an den Höchsten wendet.
Eines Tages bimmelte die Glocke. Doch als ein Diener nachschaute, fand er niemanden vor dem Haus. Erst beim dritten Mal erkannte der Diener, dass da am Boden eine Schlange kroch, die Einlass begehrte. Kaiser Karl unterbrach sogleich sein Mittagsmahl. Dann trat er aus dem Haus und liess sich von der Schlange hinunterführen zum Ufer der Limmat. Dort fand man im Dickicht der Uferböschung verborgen das Nest der Schlange, und auf den Schlangeneiern sitzend, eine fette Kröte. Der Kaiser verurteilte die Kröte zum Tode. Die Schlange aber kroch am nächsten Tag an seinen Mittagstisch und liess als Dank für die Gerechtigkeit des Königs einen funkelnden Edelstein in den Kelch des Kaisers fallen.
Was könnte in dieser Geschichte die Schlange sein und was die Kröte? Die Schlange kriecht am Boden, sie geht nicht aufrecht wie der Mensch. Doch manchmal kriecht auch der Mensch am Boden, wenn er nicht aufrichtig lebt, wenn er leidet, wenn ihn das Gewicht dieser Welt in Bann hält, ihn zu Boden zerrt und er die Kraft nicht hat, sich aufzurichten. Verächtlich denken wir zuweilen von solchen Menschen als ekligem Gewürm. Gnadenlos und unbarmherzig sind wir in solchem Denken und Tun. Das Zwiespältige der Schlange hält uns dann gefangen. Denn die Schlange meint doch das Leiden des Menschen, der es sich selber und seinem nächsten nicht gönnt, dass er aufrecht gehen könnte. Der Neid und die Missgunst kriechen so am Boden, und versuchen den Aufrechten auf seinem Weg durchs Leben in die Fersen zu beissen, und ihn mit dem Gift der Versuchung, nur ans Irdische zu glauben, zu Fall zu bringen. Bei jedem Schritt kann dies geschehen, dass wir hinfallen und auch kriechen und siechen wie die Schlangen. Und nur zu oft kriechen wir. Wie klug, dass Karl der Grosse sich vom Essen erhob, als die Schlange am Seilzug der Glocke zog und der Kaiser dazu erklärte, man solle einem unvernünftigen Geschöpfe ebenso das Recht lassen wie dem Menschen.
Die Kröte sitzt auf den Eiern der Schlange, im Nest des leidenden, siechenden Menschen, wo dessen ganze Hoffnung, seine Frucht, seine Nachkommen noch verborgen in den Schalen der Eier heranwachsen. Wie der Fluch einer warzigen Hexe hockt die Kröte auf den blütenweissen Eiern. Wie ein raffgieriger, selbstherrlicher pickliger König hockt sie da, und missgönnt der Schlange die Frucht. Die Kröte ist das Bild der Unentschiedenheit, da sie mal in der Wasserpfütze, mal am Land hockt und als Amphibium in dieser Unschlüssigkeit gegenüber der Frage, wohin sie nun gehöre, gar meint, ihr gehöre alles und auf dieses Recht gerade in der Unentschiedenheit König zu sein, agressiv pocht. Sie missgönnt es sich selber und der Schlange, dass sie sich vielleicht einst ausrichten und aufrichten könnte, dass die Schlange erhöht werden könnte, und damit zum Zeichen des Heils würde, wie wir es im Signum der Apotheker kennen als die aufgerichtete Schlange am kupfernen Stab. Zu ihrem Glück wandte sich die Schlange an den wirklichen König, an Karl den Grossen, der ihr über die Mittagszeit ihr Haus und ihre Kinder zurückgab, indem er sie vom Fluch der Kröte befreite.

 

 

Der Zauber des Edelsteins

Was geschah mit dem Edelstein, den der Kaiser von der Schlange zum Dank erhalten hatte? Karl schenkte das Kleinod seiner Frau. Der sonderbare Schlangenstein aber bewirkte, dass Karl, solange seine Frau den Stein trug, nie von ihrer Seite wich. Immer musste er bei ihr sein und um sie herum. Als die Kaiserin krank wurde und weil sie befürchtete, dass, wenn sie gestorben sei, eine andere in den Besitz des Steines und in den Genuss der Nähe des Kaisers kommen könnte, legte sie sich den Stein unter die Zunge und starb. Auch als sie tot war wich Karl der Grosse nicht von ihrer Seite. Er liess ihren Leichnam sogar ausgraben und führte seine toten Frau 18 Jahre im Sarg mit sich herum. Ein Ritter, der sich wunderte über diesen absonderlichen Zug des Kaisers, dachte an die Kraft des Steines, und fand ihn schliesslich unter der Zunge der Frau. Zunächst nahm er ihn an sich und genoss sogleich die Gunst des Kaisers. Erst nach Jahren, als man begann Übles über den Ritter und den Kaiser zu sprechen, warf der Ritter den Stein in einen Brunnen, woselbst Kaiser Karl sich sogleich niederliess und die Stadt Aachen erbauen liess.
Eine merkwürdige Geschichte.Wie aus einem Traum erzählt. Welch sonderbarer Stein, der den Kaiser magisch an sich bindet. Hypnotisch ist er von diesem Stein angezogen, bis zur Absurdität der Anhaftung an den Leichnam seiner Frau. Es ist die Hörigkeit gegenüber dem Äusserlichen, dem der Kaiser im Bild dieses Edelsteines verfällt. Der Stein bewirkt den Zauber einer Treue, die nicht aus dem Herzen kommt. Die Macht der Treue ist aus dem Herzen gerissen, der Stein hat diese Macht an sich genommen, und derjenige, der diesen Stein besitzt, kann den Zauber der Treue nun für seinen egoistischen Nutzen und seine billigen äusseren Zwecke und auch für seine Missgunst gebrauchen. Es ist mit diesem Stein die Treue unmenschlich geworden, da sie nun, ausserhalb des Herzens des Menschen, zu einem gnadenlosen Gesetz verkommt, das lebendige der Treue gleichsam erstarrt und kristallisiert. Das Vertrauen wird nun zum Zwang und zur Sklaverei, weil es nicht mehr in der Freiheit und Bewegung des Menschen gehütet wird. Fast scheint es, als ob sich in diesem Stein die Kröte rächen wollte dafür, dass sie vom Schlangennest vertrieben wurde. Nun hockt sie als Fluch auf dem Kaiser selbst indem sie ihn an demjenigen festbindet, der den Stein besitzt. Alles, was in dieser Welt funkelt und glänzt beinhaltet die Möglichkeiten und Versuchungen dieses Zaubers des Schlangensteines. Wenn der Glaube, als Synonym für Vertrauen und Treue, an nur Äusserem festgemacht wird, schwindet die Freiheit des Menschen und er wird in die Sklaverei einer Glaubensmaschinerie gezwungen, gleichsam an eine Kreditanstalt verdingt, denn Kredit stammt vom Worte Credere, Glauben. Wer an solche Götter der Kreditanstalten nicht glaubt, sich ihnen nicht beugt, der muss bereit sein, unterzugehen, wie Felix und Regula und Exuperantius. Der wird aber danach erst richtig, aufrecht, auferstehen zu einer Grösse, die er als Mensch haben soll. Der Untergang, die Hinrichtung der Stadtheiligen ist zugleich eine Auferstehung vom schlangengleichen Kriechen zum aufrechten Gang des Menschen. Dies ist im Verborgenen der Sinngehalt der Hinrichtung, des Gerichtes und des Rechts: Der Mensch wird recht gemacht, aufgerichtet. Er hat, rechtens vor Gott, seine Richtung und seine Haltung wieder angenommen, nämlich diejenige, dass er Erde und Himmel verbindet in seinem aufrechten Gang.
Wie aber kam es zu dieser Katastrophe? Das Innere, der Mann, ist der König, verborgen wie der Hirsch. Der Edelstein der Treue ist für das Innere gedacht, für den König. Das Innere aber möchte sein Geheimnis dem Äusseren schenken, der Frau. Aber damit, dass das Geschenk an das Innere plötzlich veräussert wird, beginnt das Drama der Hörigkeit. Die Treue kann im Äusseren nur als Zauber, Zwang und Lüge erscheinen. Sie muss verborgen bleiben, im Brunnen des Herzens und vom Inneren her wirken.

 

 

Der Hirsch

Immer wieder kommt in den Gründungssagen der Hirsch vor. Weshalb gerade der Hirsch und nicht der Hase? Der Hirsch ist eine Metapher für die göttliche Lenkung des Menschen. Der Hirsch ist der Stolz der Wälder. Dort lebt er verborgen, ja scheu. Man kann ihn nicht ergreifen, nicht anfassen. Man sieht ihn nur ab und an. Doch wenn man ihn jagt, kann man ihn töten. Dann meint man, man könne ihn anfassen. Sein Lebendiges aber, ist dann schon aus seinem Körper entwichen und bleibt verborgen. Der Hirsch ist stark und ausdauernd. Er trägt ein Geweih, das aussieht wie die Krone eines Königs, oder, beim kapitalen Hirsch, dem Zwölfender, wie ein Kerzenleuchter mit zwölf Enden. Die Zwölf ist ein Ausdruck für die Gesamtheit, Ganzheit, Vollkommenheit und Erfüllung. Das Jahr ist erfüllt in der Zahl der zwölf Monate, die Zwölf ist aber auch die Gesamtheit der Jünger am Tisch des Abendmahls. König David trägt den Zunamen Zwi, der Hirsch. Wenn man im hebräischen "David" sagt, dann sagt man immer "David Zwi". Und mit dem Zunamen Hirsch meint man: David, der alles zusammenhält, der Vollkommene, die Erfüllung. Etwas gar nüchtern könnten wir sagen: Der Hirsch ist das Bild für den König, der im Urgrund des Seins, im Wald, lebt und von dort her den Menschen offenbarend lenkt. Der Hirsch erscheint stellvertretend für die verborgene und geheimnisvolle Lenkung und Fügung auf den Lebenswegen des Menschen. Der Hirsch ist Retter und Pfadfinder. Er lenkt und leitet den suchenden Menschen zu seiner inneren Heimat, auf welcher sich die äussere gründet. So ist es auch bezeugt in einer Sage von den späteren Gründerinnen des Fraumünsters. Mit leuchtendem Geweih leitet der Hirsch die beiden Jungfrauen Hildegard und Berta durch die Dunkelheit der Nacht zur Stätte ihres Gebetes. Und hat derselbe Hirsch nicht auch Karl den Grossen zu seinem Wesentlichen geführt. Zuerst hetzte er noch als Jäger hinter dem Hirschen her. Er wollte das unbegreifbar Göttliche ergreifen, benutzen und erlegen. Doch dann lenkte der Hirsch Karl den Grossen zu dieser Lichtung, zu einer heiligen Stelle. Und es findet da eine Umkehr statt. Statt dem Hirschen weiter nachzujagen, statt mit Willen und Leistung ihn zu bezwingen und zu zwingen suchen, wird nun da eine Kirche gestiftet, ein behüteter, geschützter Raum für das Andenken an das Göttliche. So wurde Karl der Grosse auf der Fährte des Hirsches verwandelt vom Jäger und Verfolger des Guten zum Stifter und Gönner des Guten.

 

 

Das grüne Seil

Hildegard und Berta heissen die Gründerinnen und ersten Klosterfrauen des Fraumünsters. Sie erflehten von Gott ein Zeichen, wo die Kirche und das Kloster erbaut werden soll. Und Gott sandte ein grünes Seil vom Himmel herab an der Stelle wo das Fraumünster heute steht. Unschwer ist das Seil als die himmlische Nabelschnur des Menschen zu erkennen, eine Verbindung, die im Diesseits scheinbar völlig gelöst ist. Im Aufragen des Kirchturms aber, der wie ein Pfeil nach oben zeigt, bleibt die Erinnerung an dieses grüne Seil erhalten und die grüne Spitze des Kirchturms bebildert so die Richtung der Sehnsucht des Menschen, Erde und Himmel zu verbinden.
Alle Sagen haben mit Gründungen zu tun. Sie möchten in der Sprache begründen und ergründen, weshalb und wie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ein Stück Heimat errichtet wurde. Die Gründungssagen sind aber nicht den oberflächlichen, historischen Fakten verhaftet. Sie weisen darüberhinaus auf ein Fundament, das viel tiefer liegt als die Steine, die es im Erscheinenden bilden: Das Fundament im Geheimnis der Heimatgeschichten. Je näher wir diesem Unbegreifbaren kommen, auf welchem alles in dieser Welt errichtet ist, desto grossartiger und umfassender erscheint uns dieses Unbegreifbare und desto näher rückt es zu uns und zu allem, was uns hier begegnet. Näher kommen zum Unbegreifbaren heisst aber: Zuzulassen, dass alles, was wir begreifen können, irgendwo an eine Grenze kommt. Was wir bei diesem Näherkommen, beim Eintritt in diese Zollstation, abgeben und aufgeben ist unser ängstliches Wissen-Wollen. Dies ist das wesentliche Opfer, das wir dem göttlichen Wirken in dieser Welt entgegenbringen zu Gunsten einer Nähe und Vertrautheit zu diesem Unbegreifbaren. Erst auf diese Vertrautheit mit dem verborgenen Geheimnis sind danach die Steine gesetzt, die das Gebäude ganz physisch begründen. Und die Geschichten erzählen davon, dass alle grossen Gebäude der Heimat in dieser Welt nicht allein zu äusseren Zwecken und äusserem Nutzen erbaut wurden, sondern dem geheimnisvollen Urfundament gewidmet und als Räume der Andacht an dieses Geheimnis gestiftet wurden. Die Ängstlichkeit, das blosse, nackte Wissen-Wollen abzulegen, ist in jedem Augenblick da. Mit der Preisgabe des Willens zum Wissen, stehen wir nämlich verletztlich da und lächerlich wie die drei Stadtheiligen vor den Römern. Wird diese Preisgabe nicht gewagt, dann flüchtet der Mensch aus Feigheit vor dem sogenannt Religiösen und kriecht dann am Boden weiter. Re-ligio könnte man übersetzen mit "Rückverbindung mit dem Usprung". In religiöser Sichtweise empfindet der Mensch alles, was in dieser Welt erscheint als Ausdruck der Verbundenheit mit einem verborgenen, göttlichen Ursprung. Der Mensch kann sich aber nie vergewissern, ob diese Verbundenheit tatsächlich da ist oder nicht. Auch die schönsten Kirchen sind noch kein beweis, dass es das Göttliche gibt. Mit Macht, Willen und Leistung ist diese Verbundenheit erst recht nicht zu beweisen aber auch nicht zu widerlegen. Es gibt keine Glaubensgewissheit. Es gibt sie ebensowenig, wie der Mensch je wissen kann, ob er geliebt wird oder nicht. Er kann es nur annehmen, dass er geliebt wird. Diese Annahme, geliebt zu sein, nennen wir Glauben und Treue. Diese bedingungslose Annahme gefällt der Kraft und Grösse der Liebe. Und diese Annahme gründet Welt. Die Offenheit, das Ungewisse der Liebe heiter vertrauend zu empfangen, ist der Grund und das Fundament für das Werden und Wachsen des Menschen.

 

Die Reformation

Wir leben nicht in metaphysischen Räumen. Und wir leben auch nicht in den fein gesponnen Träumen der Sagen. Diese Plumpheit des esoterischen Gehabes ist Auswurf des Leidens an der Unfähigkeit zu einer Unterscheidung zwischen Profanem und Sakralem. Solche Gleichmachereien von ewiger Sage und zeitlichem Tun hat schon manche Kontinente verwüstet. Letztmals im Wahn der Nationalsozialisten. Das Leben in der Zeit ist immer verwirrlich, nebulös, undurchschaubar. Und immer wieder bedarf es des Menschen, der mit aller Schärfe und Entschiedenheit auf diesen Punkt weist, dass eine Grenze ist zwischen Zeitlichem und Ewigem. Zwingli war ein solcher Mann, ein Mann der Berge, aus Wildhaus stammend. Er wurde da aber nicht ein Kleinbauer, der auf den verstreuten kleinen Höfen im Toggenburg, dem Boden sein kärgliches Brot abtrotzte. Huldrich Zwingli war privilegiert. Er konnte in Basel Theologie studieren. Und Theologie galt damals noch als Oberbegriff aller Wissenschaft. Zwingli kam als Leutpriester nach Einsiedeln, wo auch Paracelsus geboren wurde. Es war eine Aufbruchzeit der Wissenschaft. Die Druckkunst war erfunden und damit die Begeisterung entfacht, man könne mithilfe der massenhaften Verbreitung und Streuung der Schriften alle Gebrechen der Welt, wissend, lehrend, lernend und ordnend in den Griff bekommen. Der Glaube an die Allmacht des Wissens nahm ihren Anfang. Und die Pest wütete wie ein Echo dazu in den Völkern. Die Renaissance hatte zuvor die Wiedergeburt des Individuums nach griechischen Vorbild gefordert. Der einzelne war wieder wer. Damit aber war auch der Glaube aus der Eingebundenheit in der Gemeinschaft dem Individuum in die Verantwortung übergeben. Konnte das gut gehen? Was sollte der Ungebildete, der sich plötzlich als unabhängiges Individuum zu empfinden hatte, mit dieser Verantwortung, die er plötzlich und ganz unvorbereitet erhielt? Der Schrecken dieser Frage musste auch Zwingli erfasst haben: Was macht das Volk mit diesen Schriften? Und wir müssen nicht historisch zurückschauen, um über diese Frage nachzudenken. Die Masse liest heute die Bibel oder den Koran, die Bagavagita oder andere heiligen Gedichte oft nicht anders als sie den Blick lesen. Sie verschlingt rätselhafte, Jahrhunderte hindurch streng gehütete Schriften wie seichte Vorabendserien im Fernsehen. Gerade das Gedicht, geschweige denn die heiligen Schriften, bedingen aber ein ungeheuer hohes Mass an Zurückhaltung des Lesers, um es nicht mit der Zugabe eigener subjektiver Beliebigkeiten zu erschlagen. Es ist - um eine Brücke zu der bildenden Kunst zu schlagen - keineswegs so, dass im Vergleich zu einem realistischen Bild, ein abstraktes Bild dem Menschen mehr Freiheit gibt, um es mit Eigenem zu erfüllen. Im Gegenteil. Je abstrakter ein Bild, desto höher sind die Anforderungen an den Künstler und an den Betrachter, der Versuchung zu widerstehen, es mit eigenen Vordergründigkeiten zu usurpieren. Gerade diese Zurückhaltung fehlt aber heute, ja, fehlte schon immer. Fehlt auf beiden Seiten. Das ist der Irrtum, die Vermessenheit und das grosse Scheitern der Kunst in diesem Jahrhundert. Und es könnte einem manchmal Grauen vor dem Gedanken, welchen Unfug die ungebildete Masse mit den grossen Werken der menschlichen Kultur treibt, und wie eingebildet sie ist von ihrem Unfug.
Zwingli hatte solches schon vor 500 Jahren empfunden. Er liess deshalb die Gebeine der Stadtheiligen entfernen, um das billige, oberflächliche Treiben der Pilgerfahrten zu unterbinden. Er liess das Bildwerk aus den Kirchen entfernen, um dem gesprochenen und geschriebenen Wort mehr Geltung und Respekt zu verschaffen. Er wollte die Kirchgänger Zurückhaltung lehren. Er konnte aber mit dem Bildersturm niemals gemeint haben, das Bild sei schlecht und das Wort gut. Er zweifelte viel eher an der Bildung der Menschen. Zwingli wollte seiner Gemeinde in der Kirche ein Schulzimmer bereiten, nicht ein Lebkuchenhaus für den nur äusserlichen nur ästhetischen, gefälligen Augenschmaus. Und das, was man da in dieser Sonntagsschule lernen konnte, sollte heissen: Unterscheidung von Zeitlichem und Ewigem, Unterscheidung von Physischem und Metaphysischen. Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit. Doch diese Ausbildung dauert noch heute an und die Frage ist berechtigt, ob die Universitäten, die damals in der ganzen Welt gegründet wurden ihr Ziel erreicht haben, den Menschen diese Unterscheidung zwischen Zeitlichem und Ewigem, äusserliche-materiellem und innerlich-geistigem glaubend nahezulegen. Der Zweifel wird gut, denn er spornt an weiter um das Wesentliche zu Ringen und zu streiten. Der Glaube wäre besser, weil er empfindet, dass es schon jetzt gut ist, aus unerfindlichen Gründen. Doch wer behauptet, er glaube zweifelsfrei? Und um für das Zusammensein von Zweifeln und Glauben ein Bild zu geben: Zwingli, der die Gebeine der Stadtheiligen entfernen liess, taufte eine seiner Töchter auf den Namen Regula.

Dass das innere Glück, die äussere Ordnung und die Überraschungen in der Zeit treu zueinander und miteinander versöhnt sind, ist eine Behauptung, die immer wieder entkräftigt wird. So stehen das innere Glück, Felix, und seine Schwester Regula, die äussere Ordnung, mit ihrem Diener Exuperantius, der Überraschung im Zeitlichen, enthauptet da. Die Hauptsache kann in dieser Welt nicht erscheinen. Das Heilige ist eine Verborgenheit und so können in Zürich die Heiligen nur enthauptet an dieses Verborgene erinnern.

 

 

 

Das achte Bild

Im Schlussbild sind die sieben Stationen des Bildwegs zusammengefasst. Wir erkennen die Silhouette des Grossmünsters, darunter eine Parkbank, auf welcher zwei Menschen sitzen, ein Baum, dahinter der Turm des Fraumünsters, eine Brücke und in der Mitte des Bildes eine menschliche Figur, vielleicht ein Kind, das mit erhobenen Armen zu einer Taube zeigt, die auffliegt.

Wir erinnern uns: Die beiden Türme des Grossmünsters wurden gebildet aus den Linien von Felix und Regula, den beiden Einsiedlern in der Lichtung, Kaiser Karl und der Glocke am Haus "Zum Loch", dem Wagen mit der Leiche der verstorbenen Königin, dem Wald, der Kanzel, auf welcher Zwingli predigte. Am Ort der Parkbank fand man auf den Einzelbildern des Bildwegs die Zuschauer der Hinrichtung, Kaiser Karl als Jäger, die Kröte auf den Eiern, Hildegard und Berta, die zum Gebet gefalteten Hände. Der Baum entstand aus dem Körper des Scharfrichters, dem hingeknieten Pferd des Jägers, der Schlange, dem leidenden Kaiser Karl, dem Hirschen. Und das Kind: Es besitzt Linien des Richtblocks, des Hirsches, des Schlangenkopfs, des grünen Seils und des Gesichtes des Menschen.

In der Art und Weise, wie in diesem Schlussbild die Einzelgeschichten zusammengefasst sind, verdeutlicht sich ein Begriff der Verbindung und des Zusammenhangs. Verbindung und Zusammenhang meinten nicht, Gleiches mit Gleichem zu gesellen. Gleiches ist mit Gleichem und Ähnliches mit Ähnlichem schon verbunden durch die Ähnlichkeit und Gleichheit. Verbindung meint vielmehr, dass Widersprüchliches in einen Bezug kommt. Zusammenhang meint, dass Unterschiedenes versöhnt ist.

 

 
Heimatliche Wege

Essay von Thomas Primas

Heimatliche Wege
oder
Die ewige Wiederkehr des Gleichen


1


Der Weg und die Heimat gehören zusammen. Auf den Wegen in der Welt sammeln wir die Schätze, die uns Heimat schenken. Die Schätze waren schon immer und sind stets unser Eigentum; sie sind unsere eigenen Schätze. Doch auf den Wegen in der Welt nehmen wir diese Schätze in Besitz. Wir setzen sie in das Haus unserer Heimat, wo sie zum Gesetz unseres Lebens werden. Als unser Gesetz des Lebens sind sie die Verfassung der Heimat, in der wir leben wollen, und sind die Lebensstimmung, der wir mit unserer Wahl im eigenen Tun und Verhalten die Stimme geben.
Wir sammeln aber auf den Wegen in der Welt die Schätze nicht so ein, dass wir das Wissen von ihnen einsammeln. Das Wissen von ihnen und das Wissen über sie sammelt sich zwar an, indem wir sie kennenlernen und langsam mit ihnen zusammenwachsen. Wir sammeln aber immer das Ganze des Schatzes ein, unser Wissen, aber auch unser Nichtwissen über sie. Wir sammeln unsere Schätze als Existenzen ein, die ihr Sein zwar nach aussen hin stellen, um sich uns zu zeigen, doch ihr Sein auch jenseits unseres Begreifens verbergen, um uns stets von neuem zu überraschen und zu beschenken.
Wir meinen, wenn wir "unser Schatz" sagen, auch oft "unser Geliebter", "unsere Geliebte". Wir lernen unseren Schatz kennen, wachsen langsam mit ihm zusammen, und unser Wissen über ihn weitet sich aus. Das Wissen über ihn hilft uns, die Weisen zu verstehen, wie wir ihm liebevoll und angemessen begegnen und ihn beschenken können. Wenn das Wissen zu einem solchen Verständnis erwachsen ist, wird es daher zurecht Weisheit genannt.
Der Liebende, der seinem Schatz auf den Wegen in der Welt begegnet, möchte aber, dass dieser "da" ist. Das gesamte Wissen, das er über seinen Schatz hat, mag ihn nicht glücklich machen, ja verleidet ihm sogar, wenn sein Schatz nicht da ist. Das Wissen über ihn ist noch nicht identisch mit seinem Dasein; wenn er nicht da ist, fehlt er uns. Das Wissen über ihn scheint uns zwar zu nützen, scheint uns auch reicher zu machen und bewusster, doch das Wesentliche, das wir uns wünschen, ist seine Anwesenheit, sein Dasein. Sein Dasein ist mit unserem Dasein derart verknüpft, dass die beiden Dasein eigentlich nicht zu trennen sind; das Dasein beider ist die Heimat, in der wir wohnen möchten.
Was aber bedeutet dieses "Dasein"? Wo müssen wir sein, dass wir "da" sind, und wo muss unser Schatz sein, dass er für uns "da" ist?


2


Das Dasein erscheint uns zuerst einmal ganz einfach als ein Dasein in Raum und Zeit. Es ist da im Hier und im Jetzt. Dann, als zweites, gehen wir davon aus, dass dieses "Da" meint: bei mir. Das Dasein soll bei mir sein, bei mir bleiben und nicht im nächsten "Hier und Jetzt" schon wieder verschwunden sein. Als Drittes schliesslich hoffen wir darauf hin, dass das Dasein mit mir und für mich da ist. Ein gleichgültiges "Da" ist für mich nicht da, sondern vielleicht dort oder dort, nie aber zu mir hin.
Wahres Dasein ist also in der jeweiligen Gegenwart des Hier und Jetzt, aber auf Dauer bei mir, mit mir und für mich da. Ein solches Dasein - das spüren wir sofort - wäre für uns eine Heimat. Aber ist nicht das Leben ein solches Dasein? Das Leben ist lebendig da in jeder Gegenwart; es ist auf Dauer bei mir und mich so im Leben haltend; und es ist mit mir und für mich sorgend da, alles gültig zu mir hin besorgend, so dass Leben "für mich" ist.
Indem wir aber das Dasein "Leben" nennen, haben wir noch nichts gesagt. Wir müssen weiter fragen und weiter denken. Aber indem wir weiter fragen und weiter denken, tun wir genau jenes, was Dasein und Leben bedeuten: in der jeweiligen Gegenwart, aber auf Dauer da zu sein, dabei zu bleiben und dafür da zu sein. Wir fragen und denken weiter auf den Wegen in der Welt und sammeln die Schätze ein, die uns in ihrem lebendigen Dasein Heimat sind. Da, in der Heimat, im Haus der Ehe, im Haus der Freundschaft, im Haus des Lebens ist das Dasein beieinander, miteinander und füreinander da. In der Heimat gründet sich das Dasein und das Leben; sie gründen sich darin so unmittelbar und unmitteilbar, dass dieses Gründen und dieser Grund für uns verborgen bleiben. Die Heimat ist das Daheim des Geheimnisses.
Auf den Wegen in der Welt aber teilt sich das Dasein mit. Das Dasein stellt sich heraus als sehr mitteilungsbedürftig. In diesem Herausstellen, in der Existenz, teilt das Dasein mit, was das ist: da zu sein. Aber was ist das Dasein? Auf den Wegen in der Welt sammeln wir die Antworten auf diese Frage ein und tragen es wie das Getreide in die Scheunen der Heimat, wo es als duftendes tägliches Brot auf den Esstisch kommt.
Es ist kein gleichgültiges Dasein, das Dasein. Es wünscht sich ein Dabeisein, ein Damitsein und ein Dafürsein. Unser Dasein wünscht sich auch ein Dasein unseres Schatzes, und es wünscht sich ein Dasein für unseren Schatz. Das Dasein ist also ein Wunsch und ein Wünschen, und der Wunsch stellt sich heraus als sehr mitteilungsbedürftig. In diesem Herausstellen, in der Existenz, teilt der Wunsch mit, was das ist: zu wünschen. Aber was ist der Wunsch? Auf den Wegen in der Welt sammeln wir die Erfüllungen auf unsere Wünsche ein und tragen sie wie das Getreide in die Scheunen der Heimat, wo die Erfüllung als duftendes tägliches Brot auf den Esstisch kommt. Auf den Wegen in der Welt wünschen und bitten wir für unsere Heimat, für das Daheim des Geheimnisses, um das tägliche Brot der Erfüllung.

3


Der Weg und die Heimat gehören zusammen, und doch ist eine Grenze zwischen ihnen. Diese Grenze schützt den Weg vor der Heimat, dass er Weg bleiben kann, und schützt die Heimat vor dem Weg, dass sie Heimat bleiben kann. Die Grenze schützt den ins Dasein gewünschte Schatz, dass er einerseits vom Weg eingesammelt werden kann, vom gleichen Weg aber nicht fortgenommen wird. Der ins Dasein gewünschte Schatz heisst deshalb Schatz, weil er ins Dasein der Heimat gewünscht wird, wo er geschützt ist vor dem Verschwinden auf dem Weg.
Nietzsche bezeichnet das Problem des Daseins und damit des Lebens als den "Widerwillen des Willens gegen die Zeit und ihr ‘es war’". Auf dem Weg, in der Zeit also, sammeln wir unsere Schätze ein, doch die Zeit läuft weiter, der Weg zieht weiter, die Schätze verschwinden, schwinden und verwesen, und nichts bleibt übrig. Das, was auf dem Weg da war, bleibt nicht bei uns; das Dasein ist damit kein Dasein, sondern nur vorübergehender, treuleuser Schein, Leere, Nichts.
Doch Nietzsche bleibt nicht auf dem Weg stehen; er sucht eine Heimat. Er wünscht sich für das Dasein eine Heimat. Er sucht und sammelt, und während diesem Suchen und Sammeln auf den Wegen in der Welt scheint es ihm, als sei etwas da, etwas, das wiederkehrt, zu ihm zurückkehrt und Treue hält. Dieses Ihm-Scheinen auf den Wegen in der Welt glaubt er, benennen zu können. Es ist die ewige Wiederkehr des Gleichen.
Aus der Mitte der Heimat, aus der Mitte des Daheim des Geheimnisses öffnet sich in jeder Gegenwart ein Schatz in die Existenz. Er öffnet sich in die Welt hinein und möchte da sein. Wir könnten diese Mitte der Heimat Insistenz nennen, denn beharrlich und dauerhaft öffnet sie sich der Welt und instistiert auf ihrem Wunsch, da zu sein. In der sichtbaren Existenz teilt sich die verborgene Insistenz des Wunsches mit. Das Sein möchte da sein und uns in dieses Dasein rufen. Beharrlich und dauerhaft öffnet sich deshalb aus der Mitte des Daheim des Geheimnisses der Schatz des Seins in die Existenz, dass der Wunsch gehört werde.
Dies ist die ewige Wiederkehr des Gleichen. Immer wieder der gleiche Wunsch, der Wunsch nach dem Dasein, teilt sich den Wegen in der Welt mit, und immer wieder der gleiche Wunsch nach Dasein sehnt sich der Heimat zu. Die Wünsche, jeder einzelne wichtig und ernst, bündeln sich in dieser Wiederkehr zu umfassenderen Wünschen. In dieser Bündelung ordnen sich die Wünsche, richten sich aus und werden klarer, wacher und ruhiger. All unsere Wünsche, insofern sie nur dies und jenes meinen, sind Götzen, unzählbar in ihrer Vielheit und vergänglich auch in ihrer Erfüllung. Doch die gleichen Wünsche, gebündelt zu diesem einen Wunsch nach lebendigem Dasein, gebündelt im einen Wunsch, der zum Sein hin wünscht, ist auch in seiner Erfüllung unvergänglich ewig wie das Sein. Dies ist die Bedeutung des einen Gottes, der tot ist in unserer Angst vor der Zeit und ihr ‘es war’, aber beharrlich und dauerhaft - insistent - uns ansprechend in der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Auf den Wegen in der Welt sammeln wir die Schätze als Möglichkeiten des Daseins ein und tragen sie in die Scheunen der Heimat. Dort sind sie nicht verloren, vergangen und verwesend, sondern bewahrt in der Wahrheit ihres Seins. Aus der Mitte des Daheim des Seins als Geheimnis ragt uns beständig in jeder Gegenwart das Sein entgegen in seiner Existenz als Mitteilung seines Wunsches nach Dasein. Dieses Ahnen, dieses Glauben der Insistenz des Seins löst uns aus dem Zwang des Widerwillens gegen die Zeit und ihrem Abgrund des Verlorengehens im ‘es war’. Befreit aus dem Krampf des Haltenwollens, wo nichts zu halten ist, können wir dem Ruf der Insistenz des Seins, der uns ins Dasein ruft, folgen, uns ins Dasein begeben und das "Da" sein lassen. Die Wege in der Welt werden uns durch die ewige Wiederkehr des Gleichen zu heimatlichen Wegen.

 
4


Der eine Gott wird in der Bibel mit einem Namen benannt, der unausprechlich ist. Es wird, wenn dieser Name im Text steht, einfach "Herr" gesagt. Dieser unausprechliche Name trägt das Wort "Sein" in sich - howe. Das Sein herrscht also. Doch vor diesem howe steht ein Subjekt - je: Er. Er Sein. Das Sein ist nicht einfach ein abstraktes oder absolutes Sein, abgelöst von jeder subjektiven Regung. Nein, das Sein ist subjektiv; es wünscht. Nicht das Sein als solches ist das begründende Fundament alles Seienden, sondern das "Er Sein", der Wunsch des Seins nach Dasein und sein Ruf, der uns in das Dasein ruft.
So heisst das biblische Wort für "Geheimnis" sod. Das Wort für "Fundament" aber heisst jesod. Er Geheimnis. Das Geheimnis ist subjektiv, es ist ein wünschendes Geheimnis. Der Wunsch ist Geheimnis und als solches Fundament der Welt. Der Wunsch ist der Schatz, den wir auf den Wegen in der Welt einsammeln und der in der Heimat des Daseins sich erfüllt. Und weil aus der Heimat des Daseins dauernd und beharrlich dieser Wunsch sich äussert als Existenz, äussert sich manchmal auch die Erfüllung in die Existenz, scheu, um nicht die Angst zu schüren vor der Zeit und ihrem ‘es war’, und doch bestimmt, als Stimme der Insistenz, der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Wunsch und Erfüllung gehören zusammen wie Weg und Heimat. Dazwischen aber ist eine Grenze. Zuerst einmal schützt und verbirgt diese Grenze die Heimat des Daseins vor dem scharfen Blick des Wissenwollens. Dieser Blick tut der Heimat des Daseins weh, denn sie wünschte sich doch ein Dasein, ein Dabeisein, ein Damitsein und ein Dafürsein, nicht eine gleichgültige Kenntnisnahme als Wissen. Diesem Blick wirft die Heimat des Daseins dann Happen hin der Nützlichkeit, um ihn abzulenken von sich selbst. Das Sein geht für uns verloren auf diese Weise, weil es nicht als subjektives Sein, als Wunsch erkannt und anerkannt wird.
Dann aber, und vorallem, schützt und verbirgt die Grenze die Heimat des Daseins, weil diese sich äussern und mitteilen möchte als Weg, als Existenz. In ihrer Insistenz, ihrer dauernden Beharrlichkeit, wäre sie blosser Zwang. Wir würden ihrem Ruf ins Dasein schliesslich folgen, einfach nur, um unsere Ruhe vor ihr zu haben: Nirvana. Sie wünschte sich aber ein Dasein, ein freies, liebendes "da" sein, wie wir uns wünschen, dass unser Schatz aus Liebe bei uns, mit uns und für uns ist. Liebe ist nur möglich in Freiheit, und Freiheit ist uns auf dem Weg geschenkt.
Die Grenze, jede Grenze im Leben und schliesslich auch der Tod, ist also gleichzeitig sich verwahrende Grenze des Wissenkönnens und bewahrende Grenze der Freiheit. Die Grenze ist Grenze der Existenz und Grenze der Insistenz. Die Grenze ist entscheidend; an ihr treffen wir die Entscheidung des lebendigen Daseins.


5


Genau gesprochen ist die Existenz die Grenze selbst, denn die Existenz existiert immer nur auf der schmalen Furt der Gegenwart. In der Existenz entscheidet sich, ob wir da sind oder nicht. Doch die Existenz ist nicht eine Situation, in der wir am Tisch des Schicksals sitzen, die Blendlampe auf unser Gesicht gerichtet und einem Inquisator gegenüber, der uns anbrüllt: "Entscheide Dich!"
Durch die ewige Wiederkehr des Gleichen ruft uns das Sein, das subjektive Sein als Wunsch, zurückhaltend insistierend immer wieder in die Gegenwart des Daseins. Ganz einfach ereignet sich diese ewige Wiederkehr des Gleichen auf den Wegen in der Welt, in der Begegnung mit Mensch und Ding, im Denken und im Fühlen. Sie ergreift uns ganz einfach, diese ewige Wiederkehr des Gleichen; wir sind von ihr ergriffen. Und als wollten wir da sein mit diesem Dasein, das uns da ergreift, feiern wir mit in dieser ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Diese Feier ist die Religion und ist die Kunst. Es scheint uns fast, als wären Kunst und Religion nicht so weit voneinander entfernt, als hätten sie eine Freundschaft, ja gar eine Ehe zusammen, und als wären sie in dieser Ehe eins. Nicht so, dass die Kunst eine Religion sein sollte oder die Religion nur noch künstlich. Beide aber feiern sie - zusammen - das Fest der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Im Hebräischen ist das Wort für "Künstler" das gleiche Wort wie der "Gläubige". Und wir sagen vom Künstler, er sei "schöpferisch". Der Künstler glaubt doch an die Heimat des Daseins, an das Daheim des Geheimnisses, woraus er schöpft. Und er schöpft aus dieser Heimat mit Achtung vor der Grenze, so dass er massvoll ist, frei und unverblendet durch den Zwang des Wissens. Der Künstler glaubt und wünscht.
Ein Künstler ohne Glauben ist ein Technokrat, der Formen, Worte oder Töne organisiert. Er ist heimatlos. Der Glaubende ohne Kunst aber ist Bürokrat eines toten Gottes, dessen Dienstwege die Wege eines Beamten sind. Er ist existenzlos. Der Künstler braucht aber nicht unbedingt Anhänger einer Religion zu sein; sein Tun und Denken können schon Glauben sein. Und der Gläubige braucht nicht unbedingt Künstler zu sein; sein Alltag kann schon Kunst sein.
Kunst und Glaube, auf diese Weise verstanden, sind das Fest des Daseins. Heimat, das Daheim des Geheimnisses, scheint durch in den immer wieder neuen und überraschenden, ewig wiederkehrenden und gleichen Wegen in der Welt.
Das Daheim des Geheimnisses scheint durch und nennt den Menschen. Der Mensch heisst Adam. Sein Name bedeutet "Gleichen", "Gleichnis". Der Mensch gleicht Gott, und Gott gleicht dem Menschen. Wunsch da, und Wunsch da. Die Heimat des Daseins ist dieses "Gleichen", und das Fest des Daseins die ewige Wiederkehr des "Gleichen" auf heimatlichen Wegen.

 

 
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