|
1.
Station Ankunft
Einst kam von weit her über das grosse Wasser ein Narrenschiff in einen Hafen gefahren.
"Wo sind wir hier?" fragten die Narren:
"Das ist die Schweiz!" sagten die Bewohner. "Kommt rein!"
"Ja, aber ..?" wunderten sich die Narren, "... ist denn die Stadt nicht schon voll?"
"Ach was! Es ist noch genug Platz. Und wenn sie voll wäre, würden wir neue Häuser bauen. Aber ihr - wo kommt ihr her?"
"Wir sind die Narren, die an lächerliche Dinge glauben."
"Aha. An was zum Beispiel?"
"An die Liebe, die Treue, die Güte und Ehrlichkeit des Menschen, an Wein und Musik, an Honig und Milch, an Spiel und Lust. Vor allem aber glauben wir an unser Glück!"
"Und der schwarze Mann dort?"
"Das ist der Ernst. Der gehört zu uns, weil er glaubt, dass man uns nicht mag."
"Ach was!" sagten die Schweizer. "Wir mögen euch doch!"
Der Ernst antwortete: "Ja, das sagt ihr jetzt. Aber wartet mal ab!"
"Und diese strahlend schöne, junge Frau in dem schneeweissen Kleid?"
"Das ist die Königin der Narren, die Jungfrau, die auf die grosse Liebe wartet."
2. Station Kinder
"Wenn wir euch sehen", sagten die Bewohner der Stadt zu den Narren, "werden wir traurig."
"Aber warum denn?" fragten die Narren.
"Weil es in eurem Schiff von Kindern wimmelt. Und wird sind hier fast nur noch alte Leute. Unsere jungen Paare sagen zwar, sie wollten keine Kinder, aber es ist genau umgekehrt: Die Kinder wollen nicht mehr zu ihnen."
"Das ist nicht wahr!" antworteten die Narren, "wir sind ja jetzt hier mit all den vielen Kindern."
"Nein, wir meinen nicht die fremden Narrenkinder, sondern eigene Kinder."
"Ach so", sagten die Narren nachdenklich.
"Ja", seufzten die alten Leute, "man ist so einsam ohne Kinder. Manchmal denken wir, wir sind selber Schuld an diesem Unglück. Und es wird jeden Tag nur schlimmer. Die wenigen Kinder, die bei uns noch geboren werden, kommen schon alt und voller Falten zur Welt!"
"Es ist gut, wenn man nachdenkt", meinten die Narren, "Aber jetzt, wo wir hier sind, freut euch erst mal mit uns. Übrigens: Bei uns im Narrenschiff kommen auch keine Kinder zur Welt. Die sind alle in anderen Häfen zugestiegen. Also: Seid nicht mehr traurig. Wir werden euch jetzt eine Glücksmaschine bauen. Bringt alles her, womit ihr nichts anzufangen wisst, und genau daraus bauen wir euch diese Glücksmaschine."
3. Station Die Glücksmaschine
Als die Leute am nächsten Morgen die merkwürdige Glücksmaschine sahen, die mitten auf dem Marktplatz entstanden war, mussten sie lachen. Sie ratterte und quietschte und fuchtelte in lustigen Bewegung um sich, und zuoberst turnte Felix der Bastler, der grosse Erfinder unter den Narren, der pausenlos Teile der Maschine, die nicht mehr funktionierten, reparierte und alle unbrauchbaren Dinge, die man aus der ganzen Stadt zur Glücksmaschine heranschleppte, einbaute: Fernsehgeräte, Computer, alte Spielzeugeisenbahnen, Lockenwicklerwärmer, Küchenmixer, Kasperlifiguren, Tretautos, Kühlschränke, ein halbes Klavier und den Kratzbaum einer verstorbenen Katze. Laufend kamen weitere Dinge dazu, die flugs zu neuem Leben erweckt wurden. Die ganze Stadt traf sich bei der Glücksmaschine. Es wurde gestaunt, geredet, gesungen, gegessen und gefeiert. Ganz oben an der Maschine begann eine Rutschbahn, die quer durch die Gassen und über die Dächer der Stadt führte und dann im See endete, wo die Kinder hineinplumpsten. Es rutschten aber auch viele Erwachsene und sogar ein paar mutige Greise. Das war nämlich die Jungbrunnenrutsche. Und das Tollste daran war: Es funktionierte! In der Stadt wurden schon am gleichen Tag wieder Kinder geboren, echte Kinder, die als rosige Babys zur Welt kamen. Und wie aus dem Nichts tauchten von überall her plötzlich Kinder allen Alters auf, die man völlig vergessen hatte, und so waren nun auch die Schulzimmer wieder bis zur letzten Bank gefüllt.
Aber es gab auch mürrische, missgünstige Menschen in der Stadt, die schon ganz tiefe Runzeln und Falten hatten, und die schimpften jetzt, während sie um die Glücksmaschine herum standen: "Es stinkt", sagten sie, oder: "Es lärmt, es ist unordentlich, nutzlos, sinnlos und überdies gefährlich. Das dumme Ding könnte einstürzen und uns verletzen."
Auch der schwarze Ernst stand daneben und schüttelte den Kopf:
"Es funktioniert nicht!"
Darauf hatten die Zweifler und Pessimisten nur gewartet:
"Hört ihr!" riefen sie in die Menge, "sogar euer Ernst sagt, es funktioniert nicht!" Der aber erwiderte: "Es funktioniert nicht wegen der Glücksmaschine nicht, sondern wegen euch!"
Aber das überhörte man.
4. Station Die Seeschlacht
In der Stadt, in der die Narren gelandet waren, hatte man - wie das so ist im Leben - auch seine Sorgen.
"Schön habt ihr es", sagten die Bewohner wehmütig zu den Narren, "euch kann man nichts weg nehmen. Uns aber schon. Weil wir eine so schöne Stadt haben und so viel besitzen, lauern mächtige Feinde da draussen, und wir haben gehört, dass sie uns noch in dieser Nacht vom See her angreifen wollen, um uns alles wegzunehmen."
"Die sind eben ein bisschen wie ihr", entgegneten die Narren.
"Wie meint ihr das?"
"Ganz einfach. Sie lieben eure hohen Berge, euren feinen Käse, eure blauen Seen, eure Häfen, Dörfer und Städte, eigentlich eure ganze Eigenart."
"Aber sie lieben uns nicht!" klagten die Stadtbewohner.
"Vielleicht schon. Manchmal sieht es jedoch tatsächlich nicht nach Liebe aus. Aber ihr müsst keine Angst haben. Wir werden euch helfen."
"Ihr? Ihr Grossmäuler! Was wollt ihr gegen diese Kanonen ausrichten! Das ist doch zum Lachen."
"Deshalb sind wir ja auch die Narren!"
Und tatsächlich: Das Narrenschiff lief alleine aus gegen die Feinde der Stadtbewohner, geriet in einen Sturm und in den furchtbaren Qualm der Kanonen, und alles schlingerte durcheinander.
"Bringt alle Instrumente, die Musiker, die Feuerschlucker und die Köche mit ihren Kochtöpfen ans Oberdeck und spielt, so laut ihr könnt!" befahl der Kapitän des Narrenschiffes. Von dem Lärm und Licht zu Tode erschrocken, weil sie meinten, ein Seeungeheuer sei aufgetaucht, flohen die Angreifer, so schnell sie konnten.
Daraufhin gab es in der Stadt grossen Jubel, und selbst die höchste Regierung kam, um die siegreichen Narren bei ihrer Rückkehr zu feiern. Auch die Generäle der Stadt gratulierten, obwohl sie heimlich bei sich dachten: "Wie haben die Narren das bloss gemacht, so ganz ohne Kanonen und Gewehre? Wenn wir diesen Felix dazu bringen könnten, für uns zu arbeiten, wären wir für immer unbesiegbar."
Daraufhin war Felix plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ein paar finstere Gestalten mit langen Mänteln und breitkrempigen Hüten, munkelte man, hätten ihn geholt.
5. Station Wo ist Felix?
Alle Kinder aus der Stadt wollten - das ist ja klar - mit dem Narrenschiff mitgehen. Ihre Eltern aber wehrten ab:
"Ein paar Rundfahrten - einverstanden. Aber für immer? Kommt nicht in Frage!"
"Was hab ich gesagt", murmelte der schwarze Ernst: "Die mögen uns nicht! Hört ihr, Kinder? Die mögen euch nicht. Die wollen, dass ihr so werdet wie sie! Aber denkt daran, wie diese Stadt aussehen wird, wenn wir einmal weg sind! Und ich möchte wetten, dass ein paar Fieslinge aus der Stadt unseren Felix verschleppt haben."
Weil Felix fehlte, türmten sich unterdessen neben der Glücksmaschine, an der immer mehr Dinge kaputt gingen, richtige Abfallberge, und nun begann es auch wirklich zu stinken. Auch die Narren wussten nicht mehr ein noch aus. Sie liefen durch die Stadt und riefen allen zu:
"Helft uns, Felix zu finden", und überall wurde fieberhaft nach ihm gesucht. Vergeblich.
In dieser allgemeinen Unruhe meldeten sich nun die hohen Gelehrten der Stadt zu Wort und berichteten, sie könnten unterdessen wissenschaftlich sehr genau beweisen, dass die vielen Kinder, die seit der Ankunft der Narren in der Stadt geboren worden waren, nicht wegen der Glücksmaschine zur Welt gekommen seien. Auch die sogenannte Jungbrunnenrutsche, liessen sie verlauten, könne die Menschen nicht wirklich jünger machen. Das sei alles Schwindel, Betrug und dummer Aberglaube.
Schliesslich entschieden - wie immer - die Händler den Streit. Sie wollten endlich wieder in Ruhe einen normalen Markt abhalten. So mussten die Narren die Glücksmaschine abbrechen. Wohin aber mit ihren Teilen? Niemand wollte sie zurückhaben.
6. Station Die Befreiung
In der Stadt wurden plötzlich Kinder vermisst. Sie blieben unauffindbar, obschon jeder Winkel durchsucht wurde. Es fehlten immer mehr Kinder. Dutzende. Schliesslich kam es aus Angst und Verzweiflung der Eltern und aus Wut vieler anderer zu einem Aufstand. Man wollte das Narrenschiff räumen und versenken, da man vermutete, dass in ihm die Kinder verschwunden seien. Ein junger Mann aus der Stadt mit Namen Matti stellte sich aber dem Trupp aufgebrachter Bürger entgegen und protestierte:
"Kommt nicht in Frage! Da müsst Ihr mich zuerst versenken!"
Bald aber eilten einige Polizisten hinzu und nahmen Matti kurzerhand fest. Als die schneeweisse Jungfrau dies vom Narrenschiff aus sah, sprang sie an Land, eilte hinter den davon marschierenden Polizisten her, die den jungen Mann in Handschellen abführten, und rief in einem fort:
"Lasst ihn frei, lasst ihn frei!"
Aber die Polizisten taten ja nur ihre Pflicht und hörten also nicht auf die schneeweisse Jungfrau. Sie folgte ihnen bis zum Kerker, in den die Polizisten Matti brachten, und sie war entschlossen, vor dem Kerkerturm so lange auszuharren, bis Matti frei gelassen würde. Aber da konnte sie unter Umständen lange warten, denn Matti war im tiefsten Verliess eingesperrt.
In seiner stockfinsteren Zelle hörte er auf einmal durch die Gitterstäbe der Türe hindurch vom Zellengang her ein Geräusch, als ob jemand Rad fahren würde.
"Hallo", rief er, "ist da jemand?"
"Ja. Ich bin's. Felix der Bastler!" keuchte es vom Zellengang her.
"Was machst du da?" staunte Matti.
"Ich hocke in der Zelle nebenan auf einem alten Fahrrad, das ich umgebaut habe, und lade mit der Lichtmaschine meine Energie in Batterien. Der General will meine Energien nutzen, und ich hab ihm versprochen, ihm meine Energien morgen früh abzuliefern, wenn er mich wieder freilässt. Aber du? Wer bist du?"
Ich heisse eigentlich Matthäus Armin Theodor, aber weil man bei uns alles abkürzt, sagt man mir nur Matti.
"Ja, das sieht den Leuten gleich", sagte Felix, "und weshalb haben sie dich eingebuchtet?"
"Ich wollte die Bewohner der Stadt daran hindern, das Narrenschiff zu versenken."
"Hab keine Angst," rief Felix zu ihm herüber, "schlaf nur ruhig. Die Kinder des Narrenschiffs werden dich morgen mit ihren magischen Taschenlampen befreien."
Das Narrenschiff wurde noch in derselben Nacht versenkt. Doch am nächsten Tag stand bereits ein neues Narrenschiff im Hafen, dazu erst noch viel bunter und verrückter als das versenkte. Und wer turnte denn da zuoberst auf dem Mast herum? Natürlich: Felix der Bastler.
"Wie habt ihr das bloss gemacht?" wunderten sich die Bewohner.
"Wir haben es aus den Teilen der Glücksmaschine zusammengebaut", antworteten die Narren, "wir wussten ja eh nicht, wohin mit all dem Kram."
7. Station Adieu
Jetzt, wo sie wieder viele eigene Kinder hatten, schien es den Bewohnern, als sei die Stadt kleiner und enger geworden. Erst recht, als auch noch die verschwundenen Kinder wieder allesamt auftauchten. Der Regierung und vor allem den Generälen waren die Narren unheimlich geworden, denn da ging etwas nicht mit rechten Dingen zu: Felix war wieder auf freiem Fuss, anstelle des versenkten Schiffes schaukelte bereits wieder ein neues Narrenschiff im Hafen, und zu allem Überfluss hatten die Kinder des Narrenschiffes den jungen Mann Matti tatsächlich allein mit ihren magischen Taschenlampen aus dem schwer bewachten Gefängnisturm befreit. Einige Leute aus der Stadtregierung begaben sich darum zum Kapitän des Narrenschiffes, um mit ihm zu sprechen.
"Wir wollen Frieden mit euch", begannen sie, "wir sind dankbar für das, was ihr für uns getan habt, aber es ist besser, wenn ihr jetzt geht. Es hat hier auf die Dauer nicht Platz für uns alle."
"Dann kommt doch zu uns", sagte der Kapitän, "auf unserem Schiff ist Platz genug für alle."
"In dem kleinen Schiff soll für uns alle Platz sein?"
"Aber sicher. Probiert's halt mal aus! Kommt, steigt ein!" antwortete der Schiffskapitän.
Und tatsächlich: In dem Schiff, das nicht viel grösser war als eine Badewanne, konnten alle mühelos umhergehen und niemand klagte über Platzangst. Als die Menschen aus der Stadt wieder von Bord gegangen waren, wurden sie aber doch etwas unsicher:
"Es ist sehr nett von euch Narren, uns einzuladen, aber uns ist das nicht geheuer. An Zauber und Spuk glauben wir nämlich nicht", sprachen sie mit Nachdruck.
Und so mussten die Narren schliesslich die Schweiz wieder verlassen. Grosszügig wurden sie von den Bewohnern beschenkt, und unter dem Applaus aller lief das seltsame Gefährt mit der bunten Schar an einem prächtigen Morgen aus dem Hafen aus. Majestätisch glitt es über das ruhige Wasser der aufgehenden Sonne zu und wurde immer kleiner. Von weitem noch hörte man die Narren ihr Lieblingslied singen: Es hiess 'Das Boot ist voller Ratten' und handelte von einer Rattenbande, die dauernd schreit: "Das Boot ist voll!", aber wenn man sie fragt: "Womit ist denn das Boot voll?" antworten sie immer: "Keine Ahnung. Aber: Das Boot ist voll!"
Es war ein lustiges Lied. Sogar der Ernst sang mit und fast die ganze Stadt.
Nur die schneeweisse Jungfrau weinte. Sie hatte zwar ihre grosse Liebe gefunden, den jungen Mann Matti, und blieb seinetwegen in der Stadt. Aber sie war traurig, weil sie das Narrenschiff vermisste. Matti und die schneeweisse Jungfrau heirateten bald darauf. Und es ging nicht lange, und ihre Stube war voller Kinder. Und so haben sie jetzt ihr Narrenschiff zuhause, und auch überall bei sich: in ihren Herzen.
|
|