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Daniel Ambühl  Bildweg  Braunschweig   Dokumente

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x Ein Altersportrait von Till Eulenspiegel

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Essay zum Schlussbild des Bildwegs Braunschweig

 

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XInhalt

Einleitung  >

1.  Der Spiegel 
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2.  Die Eule 
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3.  Das Pferd 
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4.  Der Rauch 
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5.  Das Kind 
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6.  Die Maske 
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7.  Die Suppe 
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Einleitung

Eulenspiegel ist ein Schalk. Er hat uns schon wieder erwischt! Er hat uns vorgegaukelt, er erzähle uns eine schöne Geschichte über seine Heirat und Ehe, und wir hatten uns schon gefreut, an seiner Hochzeit teilnehmen zu dürfen. Und nun lässt er uns stehen mit der Bemerkung, er hätte bis zu seinem Tode nie geheiratet, aber es sei noch alles offen. Dazu kommt, dass er auf unserem fertigen Bildweg-Bild eine grauenhafte Grimasse schneidet. Man sieht: Er ist alt geworden, aber er ist noch immer Till Eulenspiegel. Er hat uns zum Narren gehalten. Wir könnten es dabei bewenden lassen, unserem Ärger Luft verschaffen, lauthals über die Kunst und den Narren, der sie uns präsentiert, schimpfen, ihn mit Gleichgültigkeit strafen oder uns peinlich gerührt und klammheimlich verdrücken.

Aber seien wir ehrlich: Haben wir es nicht kommen gesehen? Wir haben doch gesehen, wie dieses Gesicht, diese Grimasse, langsam auf unserem Papier entstand. Schon sehr früh ist es deutlich geworden. Wir haben gesehen, dass diese Geschichte in diesem Gesicht stattfindet. Es wurde immer deutlicher, in welcher Art von Gesicht die Geschichte stattfindet. Wir waren also schon ein wenig vorbereitet auf das Ende. Aber wir haben doch frohen Mutes auf eine überraschende Wende gehofft, wann auch immer, vielleicht im letzten Bild. Aber nun wissen wir es besser. Wir haben uns getäuscht. Wir wurden hereingelegt.

Haben wir nicht geahnt, dass an dieser Geschichte etwas faul ist? Eulenspiegel verheiratet?! Eulenspiegel als Familienvater, Kinderfreund, Ehemann?! Er hätte doch augenblicklich aufgehört, Eulenspiegel zu sein. Und wie hätte er als Till Eulenspiegel zu uns reden können, wenn er aufgehört hätte, Till Eulenspiegel zu sein? Entgegen aller Ahnungen und Indizien der entstehenden Grimasse haben wir gehofft, stur und blind haben wir gehofft, dass diese Wende möglich sei, dass selbst der ausgekochte Sonderling Till Eulenspiegel Hochzeit feiern könne. Wir waren betrunken von dieser Hoffnung, Erwartung und Vorstellung, und so stehen wir auch da: wie Dummköpfe stehen wir da, wie all die Menschen im Volksbuch von Till Eulenspiegel, wie diejenigen, die wir vorher ausgelacht haben. Wir stehen da als Genarrte, neben einem Haufen enttäuschter Hoffnungen und mit der harten Realität einer Grimasse. Und allen ist jetzt plötzlich klar: Eulenspiegel lebt! Er ist noch nicht tot. Es wäre also - zumindest theoretisch - vielleicht doch noch möglich, dass er einst heiratete. Aber lassen wird das.

Einige Dinge, die Till Eulenspiegel uns im Vorwort berichtet, scheinen ganz plausibel, zum Beispiel, dass er ein Prototyp des Menschen der Neuzeit ist. Ja, er ist doch der grosse Desillusionist, der grosse Antizauberer. Immer wieder lässt er die Menschen zurück mit dem schlechten Geschmack der Leichtgläubigkeit und dem Gestank des faulen Zaubers. Viele hält er zum Narren, indem er sie der strafenden Konsequenz ihres dümmlichen Meinens aussetzt, dass alles selbstverständlich sei und alle selbstverständlich verstünden, was man meine, dass es also auch egal sei, was man sage und wie man es sage. Weshalb aber tat er das? Einfach weil er ein Zwangsneurotiker war, ein Psychopath, oder ein Weiser, ein atheistischer Bettelmöch, Volksheld, Fossil eines Kommunisten? Was helfen solche Schlagwörter? Werden sie der Frage gerecht? Schlagwörter sind wie Betäubungsmittel, wie Sprachkeulen, die jede aufkeimende Frage augenblicklich erschlagen möchten. Was wir bräuchten, um die Frage gelten zu lassen, wäre etwas Musse, etwas Geduld und Gelassenheit. Versuchen wir also nun nochmals, Schritt für Schritt zu erleben, was uns Till Eulenspiegel, dessen Altersportrait wir in Händen halten, da aufgetischt hat. Nehmen wir also den Löffel in die Hand und kosten wir von dieser schäbigen Suppe, die er sich und wir uns eingebrockt haben.

Wir sehen das Gesicht eines alten Mannes. Es ist zu einer Grimasse verzogen. Oder nennt man dies Fratze? Das eine Auge ist weit aufgerissen, starrend, durchbohrend, fast irre. Das andere Auge ist geschlossen, schlafend, wie von einer Totenmaske abgegossen. Es liegt eine fiebrige, entzündliche Spannung in diesem Gesicht, eine Spannung, die das Gesicht zu zerreissen droht. Das Haupt ist bedeckt mit wirrem, loderndem Haar, zerzaust vom Leben. Das eine Ohr lehnt sich gefährlich weit aus dem Gesicht, dem Betrachter entgegen. Dieses Ohr ist wie ein Saugrohr, es will etwas hören. Es fordert eine Nachricht vom Betrachter, eine Reaktion auf die Provokation der Grimasse. Nicht nur dringend fordert dieses Ohr das, nein, zwingend. Das andere Ohr aber ist hinter dem Kopf verborgen, als könnte es nichts hören - das Pendant zum Auge, das nichts sieht - als horchte es autistisch nur in sich selbst hinein oder als gäbe es im Gesicht dieses Menschen überhaupt nur ein Ohr.

Die Nase ragt zwischen den Augen hervor wie ein unüberwindbarer Berg. Es ist eine Vogelnase - Adlernase, Eulennase - und wie um dies zu betonen, schwingen sich hochgezogene zornige Augenbrauen drohend über diesen Haken. Der Mund ist geschlossen; unentschieden zwischen Verbitterung und Grinsen in die Breite gezogen. Falten durchziehen das Gesicht, tiefe Furchen des Unterwegsseins, als ob sich die Räder schwerbeladener Karren in die Haut gegraben hätten. Es ist ein gezeichnetes Gesicht. Scharf und deutlich gezeichnet.

Dieses Gesicht steht in unversöhnlichem Kontrast zur verspielt und leicht hingeworfenen Skizze des schelmischen Till Eulenspiegel, wie er uns von den Werbemitteln zu diesem Bildweg, vom Faltblatt, vom Plakat, von der Titelseite des Dokumentationsheftes zublinzelt. Es ist im Grunde dieselbe Pose, die wir auch in der giftigen Grimasse des Portraits wiederfinden, doch kindlich, lieblich ist sie in der Werbung, und das geschlossene Auge zwinkert eher, als dass es schläft. Was ist bloss mit Till Eulenspiegel geschehen? Ist er auf diesem Bildweg wahnsinnig geworden? Erinnert das Schlussbild des Portraits von ihm nicht an die letzten Selbstportraits von Vincent Van Gogh? Es scheint, als habe sich dieser alte, greisenhafte Till auch ein Ohr abgeschnitten und als sei er, der wie Van Gogh sich in ekstatischer Buntheit äusserte und uns mit diesem Image des unbetrübten Outlaws noch heute bezaubert - als sei er nun durchgedreht, verlassen, einsam, irre. Was ist bloss mit Eulenspiegel geschehen?

Versuchen wir einen anderen Zugang: Vergessen wir Till Eulenspiegel. Sagen wir, es sei das Gesicht unserer Gegenwart, ein Portrait unserer gespannten und spannenden Zeit. Eine Seite dieses Gesichtes ist uns zugewendet. Es ist diejenige Seite der Welt, die uns beäugt, in Beschlag nimmt, befängt, uns fanatisch, zwingend, durchdringend aushorcht, anstarrt und durchleuchtet, wissen will, forscht, zur Rechenschaft auffordert, kontrolliert, untersucht. Es ist die Forderung des Materiellen, Erscheinenden, Äusseren. Diese Breitseite der Welt hat es auf uns abgesehen. Manchmal ist es die Fratzenseite der Welt, einseitig, zerfurcht und aufgeworfen. Wie ein vorwurfsvoller Zeigfinger, wie ein Wespenstachel sticht uns dieser Blick. Diese schlaflose Seite der Welt schaut uns mit einem stechenden Blick an, weil sie nie ein Auge zudrücken kann. Das Lid hat sich verklemmt. Es ist die Seite des gnadenlosen Gesetzes, das die Welt allein an ihren Erscheinungen misst. Wir wissen genau, wenn man uns so anschaut: "Es zählt für diesen Blick nur mein Äusseres." Und deshalb erschrecken wir. Weil wir doch noch etwas anderes wissen, dass wir nämlich nicht nur äusserlich sind, dass diese Gewissheit aber für den äusserlichen Blick nicht gilt.

Die andere Seite der Welt, die uns in unserer Innerlichkeit erkennen könnte, ist dagegen wie blind. Sie scheint uns nicht wahrzunehmen, ist mit sich selbst beschäftigt und geheimnisumwitterrt in ihre Innerlichkeit, Nachdenklichkeit und Traumhaftigkeit versunken. Diese Seite sieht uns nicht, und sie hört uns auch nicht. Es scheint sogar, sie wolle uns nicht hören, sie wolle von uns in Ruhe gelassen werden. Sie hat sich abgekapselt und zurückgezogen. Wir sind ausgeschlossen und ausgesperrt, weil diese Seite der Welt uns abgewendet ist. Es ist die Schmalseite des Gesichtes, die untergehende Sonnenseite, während die breite Nacht mit dem starren Vollmondblick im Gesicht aufgeht.

Es ist eine Untergangsstimmung in diesem Gesicht. Es ist ein abendländisches Gesicht, das schon ins Nachtland gekippt ist. Und uns stellt sich - nicht erst heute, sondern schon seit über einem Jahrhundert - angesichts dieser Lage die bange Frage, ob es dennoch möglich sei, dass das starre Mondauge mit dem geschlossenen Sonnenauge eine Beziehung hat? Es ist eine verzweifelte Frage. Und alles spricht gegen die Möglichkeit, nach der sie frägt.

Versuchen wir, dieses Gesicht als unser eigenes Gesicht anzuschauen. Sie werden vielleicht sagen: "Das kann ich nicht. Ich seh doch nicht so aus!" Wohl möglich. Aber versuchen wir, nicht äusserlich zu schauen. Weshalb erschrecken wir beim Anblick dieses Gesichtes? Erschrecken wir vor dem, was uns in diesem Gesicht so fremd vorkommt, vor dem, was wir nicht kennen? Wie dies? Weshalb sollte uns etwas Unbekanntes erschrecken? Vor dem Unbekannten sind wir doch alle wie Kinder: Wir haben mit dem Unbekannten doch noch keine Erfahrung gemacht, weder Gute noch Schlechte. Deshalb fällt es uns leicht, vor dem Unbekannten und Neuen naiv, offen und gelassen zu sein, während wir bei Dingen, die uns bekannt scheinen, wegen unserer Erfahrungen, guten oder schlechten, erfreut oder erschreckt sind. Was glauben sie: Wird mit dem Neuen und der Neuigkeit dauernd geworben, weil uns dieses Neue, bisher Unbekannte erschreckt und abschreckt?

Nein. Es ist vielmehr so, dass wir erschrecken vor dem, was uns in diesem Gesicht an unsere eigenen Seiten erinnert, vor denen wir uns fürchten; an unsere eigene Nachtseite, unser eigenes Irrsein, unser eigenes Entsetzen, an unseren eigenen Wahnsinn. Ist dieses Portrait nicht ein Spiegelbild? Es ist doch das Portrait von Eulenspiegel! Der Narr, der uns mit seinem Gesicht den Spiegel vorhält, eine Begegnung ermöglicht mit unseren dunklen Seiten - der Narr würde sagen: Mit unserem wahren Gesicht. Vielleicht schauen wir die Anderen, unsere Welt und die Menschen darin, tatsächlich mit dieser fordernden Breitseite der materiellen Zwänge an und sperren den Anderen und die Welt von unserem Daheimsein auf der Sonnenseite aus? Gut getroffen! Dass man dies nur im Lachen erträgt, weiss der Narr. Deshalb hat er sich schon selber in ein Lachen gekleidet, mit dem Zottelrock und der Schellenkappe. Dieses lächerliche Kleid ist der Schutzanzug des Narren. Er schützt ihn vor der Wut und dem Zorn derer, die ihn zu vernichten drohen, weil ihnen das Lachen vergangen ist.

Noch auf andere Art könnten wir dieses Gesicht betrachten: Als das Gesicht eines guten, teuren Freundes, dessen Persönlichkeit durch diese Maske der Haut zu uns hindurchtönt. Im Äusseren mag uns dieses Gesicht zerzaust und wirr und erschreckend erscheinen. Wir ertragen es aber spielend und freudig, wenn wir den Freund hören. Wenn man an seiner Äusserlichkeit hängen bleibt, im Äusseren gebannt und an Äusserlichkeiten festgenagelt ist, dann wird dieses Gesicht plötzlich abstossend und bedrohlich, und wir sagen dann sogar: Es ist diabolisch. Diabolisch ist dann aber weder das Gesicht noch der Freund dahinter. Nein, diabolisch ist die Taubheit des Menschen für den leisen Klang der Persönlichkeit seines Freundes, der durch diese Maske des Gesichts zu ihm hindurchtönen möchte. Diabolisch ist die Art und Weise, wie der Mensch blind für seinen Freund ist, weil er - wie das starrende Auge - nur seine Maske gelten lässt und behauptet, dass niemand hinter dieser Maske sei, keine Geschichte, kein Herkommen, kein Lieben und Streiten und Sehnen, dass in diesem Haus aus Haut und Haaren niemand zuhause ist. Diese Weigerung, etwas zutiefst Menschliches hinter der Maske eines Gesichtes anzunehmen, ist das Diabolische, das uns dann - wie ein Spiegelbild unseres eigenen gescheiterten Blickes - in dem Gesicht erscheint, das wir gerade betrachten; als unversöhnliches und beunruhigendes Zerwürfnis; als Schreckensbild, das uns verfolgt und in uns stecken bleibt, bis es erlöst ist von unserem Unvermögen, seinem Geheimnis zuzuhören.

Dem Geheimnis zuhören: Wie macht man das? Kaum haben wir dies gefragt, bemerken wir an uns eine seltsame Regung. Es regt sich etwas in uns, das sich instinktiv und mit spitzen Ellbogen vordrängt: Die ursprüngliche Frage wird von diesem Urviech, das beim Stichwort "Geheimnis" aus uns hervorstürmt, sofort umgebogen, und zwar so, dass sie nun lautet: "Das Geheimnis lüften, wie macht man das? Und was können wir dann alles machen, wenn wir es gelüftet haben?" Machtgier heisst dieses Urtier! Meist können wir dieses Tier beruhigen - wie wir einen Kettenhund beruhigen, der einen Freund angebellt hat, der uns besuchen möchte. Und wir müssten eigentlich diesem Kettenhund in uns dann folgendes erklären:

Ein Geheimnis kann man nicht lüften, weil es sonst entfliegt und verschwindet. Ein Geheimnis ist ein Geheimnis. Und wenn es gelöst werden könnte, wäre es ein Rätsel oder eine Aufgabe oder eine Rechnung, aber niemals ein Geheimnis. Wir können dem Geheimnis zuhören dann, wenn wir unseren Machthunger in Zaum halten, fasten und uns zurückhalten vom verführerischen Duft, das Geheimnis lüften und mit ihm etwas ganz Praktisches anfangen zu wollen. Kinder haben diese Gabe noch ganz unverbildet. Sie können einem Geheimnis zuhören, mit offenem Mund. Sie fragen noch nicht: Was kann ich jetzt mit diesem Märchen vom Aschenbrödel anfangen? Was genau will uns jetzt das Märchen sagen? Was ist die Moral von der Geschichte? Dieser äussere Nutzen eines Moralgesetzes, eines praktischen Lebensrezeptes einer Deutung zu therapeutischen Zwecken wird erst von den Erwachsenen dem Märchen übergestülpt. Das Geheimnis der Geschichte erstickt dann unter solchen Misshandlungen, und das Erzählen wird zur inhaltslosen Rhetorik, die nur ihre eigenen Absichten würdigt, nur ihr Ziel im Auge hat, mit starrem Blick an diesen Zwecken haftet und damit das Geheimnis des Unterwegsseins im Gespräch verleugnet und beleidigt. Dasselbe gilt aber auch für das Zuhören. Wenn der Zuhörer nur auf seinen eigenen Nutzen fixiert ist, vernimmt sein Ohr nur immer das Echo seiner eigenen Absichten und gehorcht dem Glück nicht, weil es das Geheimnis einer Mitteilung von einem wirklichen Gegenüber überhört.

Wir befinden uns in einer Geschichte, die Till Eulenspiegel eulenspiegelbildlich erzählt. Er erzählt in dieser Geschichte von uns. Er erzählt die Geschichte auch für uns. Er erzählt sie aber über sich. Aber nicht nur von uns, nicht nur von uns heute handelt diese Geschichte. Till Eulenspiegel erzählt diese Geschichte über den Jedermann der Neuzeit. Und nur er, Till Eulenspiegel, kann diese Geschichte erzählen, weil er der Niemand ist in dieser Neuzeit. Der Narr spielt dem Jedermann den Jedermann vor, wie er vom Niemand aus gesehen wird. So spielt der Narr auch dem König den König vor, wie er vom Niemand aus, von seinen Untertanen aus, gesehen wird. Deshalb ist Till Eulenspiegel in dieser Geschichte von seiner Hochzeit und in allen Geschichten, die er treibt, nicht der Niemand, der sich so durchs Leben schlägt. Er führt nicht seine Biografie auf. Er spielt dem Jedermann den Jedermann vor, der sich so durchs Leben schlägt. Und er spielt uns die Geschichte des Jedermanns vor, der in der Neuzeit von seiner Hochzeit träumt und von ihr erzählen möchte. Und diese Geschichte spielt sich im Gesicht des alten Eulenspiegel ab, sie stellt sich dar in der Mimik seines Gesichtes. Die Schauspsieler dieses Stückes sind: Die beiden Augen, das Ohr, der Mund, die Nase, die Haare und in wichtigen Nebenrollen: die Stirnrunzeln und Hautfalten.

 

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Der Spiegel

Die erste Station des Bildwegs heisst nicht "Der Kiosk" oder "Die Hexe im Wald". Sie trägt den Namen: Der Spiegel. Weshalb? Der Spiegel ist dasjenige, worin sich der Mensch erkennt.

Auf der Bildplatte sehen wir folgende Szenerie: Der Jedermann ist ein Frosch. Er ist gekennzeichnet mit der Narrenkappe und mit der Eule, die ihm im Nacken sitzt. Er hält den Spiegel vor sein Gesicht und erkennt darin etwas, das er eigentlich nicht sehen dürfte, etwas äusserlich Unmögliches: ein Mensch mit einer Narrenkappe. Der Spiegel lügt also. Er müsste doch zeigen, dass der Frosch ein Frosch ist und der Mensch ein Mensch, aber nicht, dass der Frosch ein Mensch ist. Was ist da geschehen? Hat die Hexe den Spiegel verzaubert? Nein. Die Hexe ist keine Hexe, sie ist eine Kioskfrau. Und sie hat auch niemanden verzaubert. Sie hat dem Jederman nur nachgerufen: "Du wirst ein Frosch sein..." Und das war sogar noch untertrieben. Er war ja schon ein Frosch. Er war angezogen von ihrer bunten Auslage, hing an ihrer Äusserlichkeit und frass sich daran halb zu Tode. Doch, als er das erste Mal ihr Haus betreten durfte und ihrem Geheimnis nahe kam, nahm er reissaus. Was hatte er da gesehen, das ihn in die Flucht trieb? Seine Angebetete war zur Hälfte ein Drache, ein Geier. Wir kennen solche Darstellungen zuhauf aus den Märchen und Sagen. Es ist die Situation der Begegnung des jungen Mannes mit der Jungfrau, die in der Höhle des Drachens festgehalten wird und befreit werden soll. Oder anders gesagt: Es ist die verzweifelte Stimmung des Menschen, dass seine ewige Schönheit hier, in dieser Welt, in den Klauen des vergänglichen Äussern festgehalten wird. Die Wirklichkeit hat eine Schokoladenseite, die ewig schöne Jungfrau, die traumhaft feinen Sachen des Kiosks, das Schlaraffenland, der knackige Apfel, die bunte Schönheit dieser Welt, an der man sich ohne Unterlass laben möchte, und die Wirklichkeit hat eine erschreckende Seite, den Drachen, das Gift der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, die Hölle, die Grausamkeiten dieser Welt, die man meiden und ausrotten, töten möchte. Was aber, - wie in unserem Falle - wenn Schlaraffenland und Hölle, Apfel und Gift, Jungfrau und Drache zusammen sind, was, wenn sie eins sind? Ein schwieriges Problem. Soll Eulenspiegel seiner Kioskfrau den Unterleib abhacken, um sie vom Drachen zu befreien? Ein absurder Gedanke. Wie löst man dieses Problem? Eulenspiegel löst es mit seiner Flucht. Und deshalb - könnte man streng folgern - ist er auch ein Frosch, Metapher für die Unentschiedenheit, das Unreife, das Grüne, Pubertierende, noch nicht Erwachsene. Vordergründig reagiert er ganz logisch. Er hätte nun mutig sein sollen, aber was tut er, der Feigling: Er bringt sich in Sicherheit. Und man könnte nun moralisch werden und losdonnern: Er flüchtet vor der Entscheidungsfrage: Auf welcher Seite stehst Du? Welcher Seite Deiner Geliebten traust Du? Doch Nein. Er hat sich ja schon entschieden. Er traut dem Schrecken des Drachens offenbar mehr als der Schönheit seiner Jungfrau.

Das ist aber vielleicht ganz klug. Es könnte doch sein, dass die Kioskfrau ihn nur anlocken wollte, so wie die Sirenen in der Odyssee, diese kitschigen falschen Mädels, die mit ihrem unwiderstehlichen Gesang die ausgehungerten Seemänner anlockten, um sie zu zerfleischen, oder eben: wie die Hexe, die mit ihrem Lebkuchenhaus unschuldige Kinder anlockt, um sie zu grillieren, sobald sie schläfrig, fett und träge geworden sind vom schwerverdaulichen Gebäck.

Die Situation an dieser ersten Station ist noch unentschieden. Hat Eulenspiegel jetzt recht gehandelt oder falsch? Man weiss es nicht. Deshalb hält die Eule auch den Schnabel und zuckt mit den Flügeln. Man hört von ihr nichts, obwohl sie da sitzt, wo das Ohr ist. Man möchte es wissen, aber man kann es jetzt nicht wissen. Und weil alles so unentschieden ist, ist jedermann unentschieden. Deshalb ist der Jedermann ein Frosch. Wenn er aber in den Spiegel schaut, dann antwortet ihm die verborgene Seite daraus, "Du bist es. Du bist ein Mensch hier, wo der Spiegel ist, im Verborgenen. Da draussen aber, auf der äusserlichen Seite, da scheinst Du immer ein Frosch zu sein; noch nicht das, was Du eigentlich innerlich immer bist." Der Spiegel spricht so, weil er auf der verborgenen Seite des Gesichtes ist, von einer inneren Gewissheit her reflektiert, die dem Äusseren zu widersprechen scheint. Alles ist unentschieden, auch, ob das Innere damit Recht hat oder nicht. Nach dem ersten Abzug ist selbst unklar, was sich daraus ergeben wird. Es ist wie nach allem, was wir getan haben. Es lässt sich noch nichts darüber sagen, wie und was es einmal werden wird. Es sind zwar Zeichen sichtbar, aber von einer Schrift, die wir noch nicht lesen können. Wir werden sehen.

 

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Die Eule

Im zweiten Bild ist alles umgestellt. Die Dinge haben sich gewandelt. Aus der Szenerie der Märchenwelt kommen wir nun in diese Welt, aus der alten Welt in die neue Welt. Die Eule ist am Ort, wo sich zuvor der Frosch befand, auf der äusserlichen Seite. Hatte die Weisheit im Märchen noch an der Stelle des Ohres schweigend vernommen, so ist sie nun an die Stelle des äusserlich untersuchenden, forschenden Auges getreten, aber damit auch an die Stelle des Frosches. Ja, die moderne Weisheit will nicht Partei ergreifen für etwas, sie ist selber Partei der Einheit, welche in sich beide offnen Augen zu vereinen meint. Zuvor war da der Frosch, der Ungebundene, unentschiedene. Auch die Eule will distanziert, aber ebenso genau und detailliert die Äusserlichkeit der Welt untersuchen, in ihren bunten und manchmal auch schlammigen Heftchen blättern, aber ungebunden sein und unberührt von der Welt, und sie will eigentlich mit ihr nichts zu tun haben. Eulenspiegel, der Mensch, steht immer noch auf der verborgenen Seite, aber nicht mehr im Spiegel, nicht mehr traumhaft aus dem Inneren reflektiert, sondern sozusagen aus seiner Verborgenheit herausgeworfen. Zusammengesunken kauert er da, Er hat soeben vernommen, dass ihn seine Traumfrau, die neue Welt, die aus seiner Vorstellung schon real entstanden ist, zurückweist. Ma müsste vielleicht sagen: Noch zurückweist. Sie befindet sich am Ort, wo zuvor die Eule war, am Ort des Ohres, des Hörens und Vernehmens. Von da her vernimmt der Mensch jetzt, kaum ist er aus der Märchenwelt des Mittelalters in die Realität der Neuzeit gehüpft, dass seine erträumte Welt mit ihm nichts anfangen kann. Die neue Realität, von der der Mensch hoffte, sie würde zu ihm stehen, wenn er es wagt, aus seiner Verborgenheit herauszutreten: sie lehnt ihn ab. Nun scheint das Spiel verloren. Das Geheimnis des Menschen ist beleidigt, weil es veräussert wurde. Eulenspiegel ist beleidigt, weil seine Vorstellung sich von ihm gelöst hat, indem sie real wurde und sich gegen ihn wendet. Oder besser gesagt; sich ihm gegenüber stellt. Es scheint, der Mensch habe damit seine Traumwelt verloren, mit der er doch ganz wirklich und ganz real Hochzeit feiern wollte.

Und die Eule, der Verstand dieses Menschen, glotzt ihn nur wie durch einen Feldstecher an und weiss auch nichts Gescheiteres zu erzählen, als dass diese Situation tatsächlich verhext sei. Sie nimmt an, es sei tatsächlich der Fluch der Hexe Ursprung dieser unmöglichen Situation. Wenn die äusserliche Weisheit am Ende ist, dann wird sie leicht abergläubisch. Aber dies ist ganz zweckmässig, denn der Fluch und die Zauberei sind noch letzte Schranken, um eine Logik zu bewahren und um nicht sagen zu müssen: ich weiss es nicht.

Doch merkwürdig: Nun trägt ausgerechnet der Verstand der modernen Wissenschaft wieder das Märchen von der Hexe in diese neue Welt. Schauen wir uns diese Welt nun an: Das Hexenhaus ist zu einem Brunnen geworden, an welchem Geschichten erzählt werden, von Frauen, die Kleider waschen. Menschen flanieren, Kinder springen, Männer tragen schwere Güter über den pulsierenden Platz. Der Wald hat sich gelichtet zur Stadt. Ein Haus steht neben dem anderen. Die ganze Welt hat sich bereits verwandelt nach den Vorstellungen des Jedermann. Nur er selber ist noch befangen von seiner Vorstellung und steht aussen.

 
Das Pferd

Wieder ist der Standpunkt geändert. Nun befindet sich die Realität der neuen Welt auf der verborgenen Seite; sie soll nun gezüchtigt werden für ihre Zurückweisung dessen, der sich als der Freier dieser neuen Welt empfand. Eulenspiegel reitet auf dem Pferd, der Metapher für den beherrschten Trieb. Da er aber seinen Trieb nicht beherrscht, ist es auch nicht sein Pferd, sondern ein geborgtes Pferd, von irgend jemandem ausgeliehen. Ja, der Ritter konnte doch im Mittelalter noch auf dem Pferd sitzen, der Edle, der sich durch die Beherrschung des Triebes Höherem widmen konnte. Aber dieser Eulenspiegel nicht. Er benutzt nur das Statussymbol, um Eindruck zu machen und von einer hohen Kanzel herunter die Masse zu beeindrucken. Nun wird klar, wie sich die Sitiuation geändert hat. Der Mensch will äusserlich wie ein Mensch erscheinen. Er stellt sich selber dar als Mensch, aber er ist dafür innen ein Frosch, und deshalb sieht seine Traumfrau ihn als Frosch. Wogegen die Masse der Leute, die anderen Jedermanns - man erkennt sie daran, dass sie alle auch Narrenkappen tragen - mit Eulenspiegel mithalten. Die Begegnung zwischen dem Menschen und seiner neuen Welt findet nicht im geschützten Raum der Liebe statt, sondern wird nun in der Öffentlichkeit ausgebreitet. Nun steht die Traumfrau auf verlorenem Posten, eben, auf der Seite der Verborgenheit, des Niemands.

Ihr Vater könnte sie noch retten, er ist sozuagen zum Richter bestellt. Aber der Vater, der verborgene Ursprung dieser neuen Welt, kann nicht beurteilen, wer recht hat, er ist blind in der äussern Welt. Er steht an der Stelle der Unentschiedenheit, wo doch auch einmal der Frosch stand, und soll nun da entscheiden. Dieser Vater steht an der Stelle der Äusserlichkeit alleine, und er entscheidet, obwohl er selber nichts sieht, nach dem, was und wie es die Masse sieht und was er von ihrem Sehen hört. Er sagt nicht, dass seine Tochter Unwahres spricht. Er entscheidet nur, dass die beiden heiraten sollen. Es sieht so aus, als hätte er damit seine Tochter verkauft. Doch vielleicht wollte er nur, dass dieser Streit zwischen dem Menschen und seiner neuen Welt nicht noch weiter in der Öffentlichkeit stattfindet, sondern im Haus der Ehe ausgetragen wird. Andererseits ist er doch ein Gerber, einer, der die Haut verarbeitet und verkauft. Der Gerichtshandel misslingt. Die neue Welt des Jedermanns weigert sich noch immer, ihn zu heiraten. Doch jetzt, wo sie aus der Verborgenheit ins Äussere gezerrt und vor ein äusseres Gericht gestellt wurde, muss sie untergehen. Die Sichtweise des Verborgenen gilt, ins Äussere gezerrt, als Hexerei.

 

 
Der Rauch

Nun wiederholt sich etwas, was schon einmal geschehen ist. Die erträumte Welt, die schon real ist, wird verbrannt, weil man an ihr Geierkrallen und blutige Federn sah. Und so geht dasjenige der erträumten Welt, das real geworden war, wieder unter auf dem Scheiterhaufen. Die neue Welt scheitert am Widerwillen derjenigen, die dem neuen Äussern keine eigene, freie Innerlichkeit gewähren wollen. Sie wollen das Innerliche ein für alle mal im Äusseren haben, und wenn der Zwang nicht fruchtet, dann muss das Neue eben untergehen. Und vieles ging so unter. Das Äussere entwickelte dabei eine diabolische Lust, in Sicherheit zuzuschauen, wie dieses neue Alte untergeht. Es ist eine TV- Kamera zu sehen am Ort des äusserene Augen. Es ist damit nicht das reale Fernsehen gemeint: Es ist in diesem Bild und als Bild gemeint: Das distanzierte, kalte Starren, der technische Blick, der alles ganz genau bis in die letzte Peinlichkeit ans Licht zerren will, der Blick, der keine Haltung und keine Zurückhaltung kennt, dem die Nähe fehlt. Fernsehen eben. Auch wenn der technische Blick ganz nahe heran geht, bis zum Atom, ist es immer noch Fernsehen, weil das wesentliche Element der Nähe fehlt, der menschliche Bezug, dessen Raum der Begegnung sich aus der Zurückhaltung und der Wahrung des unantastbaren Geheimnisses im Gegegnüber öffnet.

Auf der Bildplatte sehen wir die erträumte Welt, die real geworden war, dargestellt von der Traumfrau des Jedermanns, an der Stelle, wo die Nase im Gesicht des Menschen ist. Dort also, wo der Austausch zwischen Innen und Aussen stattfindet. Das Tor, wo der Atem ein und aus geht. Die Befestigung dieser Verbindung zwischen Innen und Aussen geht in Flammen auf, der Rauch vernebelt die Sicht, man sieht nichts genaues mehr, weil doch die Unterscheidung nicht mehr möglich ist, wenn die Verbindung zwischen Innen und Aussen unterbrochen ist. Der Jedermann sieht aber, - obwohl nun seine erträumte Welt brennt - dass sie dennoch weiterlebt. Das Feuer dieses Scheiterhaufens greift auf die Stadt über; sie ist auch schon real gewordener Traum und verbrennt mit der erträumten Welt. Doch nun, wo es die Häuser der Jedermanns trifft, rückt die Feuerwehr aus und zerstört mehr, als durch das Feuer vernichtet wurde. Im Rauch dieses Feuers hat jeder etwas anderes gesehen. Aber wenn das Äussere vom Inneren getrennt ist, wird es auch nicht mehr gestört bei seinem beliebigen Meinen, dass man alles Mögliche für wahr halten kann.

 

 
Das Kind

Plötzlich vernimmt der Jedermann, dass etwas von ihm selber aus seiner vernichteten neuen Welt übriggeblieben ist. Es ist da im Verborgenen der neuen Welt etwas weiter- und herangewachsen, von dem niemand wusste. Und nicht nur ist es aus der neuen Welt alleine herangewachsen. Nein, der Jedermann war Zeuge dieses neuen Triebes, obwohl er doch wissentlich nie mit seiner neuen Welt zusammen war und nie zu ihr gestanden hatte. Diese Frucht erscheint nun ganz real. Ein Kind ist entstanden aus der Beziehung zwischen dem Jedermann und seiner neuen Welt, obwohl sie nie verheiratet waren. Ein uneheliches Kind, also. Das kann nun Eulenspiegel, der mit eingestemmten Armen auf der äussern Seite steht, nicht schlucken. Er wollte doch die Märchenwelt verlassen! Nein, er ist nicht Josef! Viel lieber wäre er in dieser Weihnachtsgeschichte, die man ihm da aufführt, Gott gewesen, aber ganz real. Der Paffe versucht zwar, von der verborgenen Seite her Eulenspiegel zuzureden. Aber er erzählt keine Geschichte mehr, wagt sich nicht mehr, die Weihnachtsgeschichte zu erzählen, sondern versucht, dem Jedermann logisch zu erklären, was nicht logisch ist. Er setzt seine Rhetorik ein. Es ist ein verzweifelter Versuch. Und er scheitert. Der Jedermann hat plötzlich kein Gehör und kein Verständnis mehr für die Idee, dass die Vorstellungen real werden könnten. Oder vielmehr. Er hat doch damit bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht. Das Kind wird abgewiesen. Es ist, als habe der Jedermann damit das unbegreifliche Geschenk abgelehnt, dass - trotz allem - diese gescheiterte Beziehung fruchtbar war. Davon kann und will er aber nichts wissen. Das Kind kommt ins Waisenhaus, niemand weiss später, welches Kind dieses Kind war. Es ist da, ohne äusserliche Abstammung. So wird der Same des Neuen ausgestreut.

 

 
Die Maske

Jedermann ist verzweifelt. Seine neue Welt hat er äusserlich vernichtet. Dass sein Leben dennoch fruchtbar sein könnte, lehnt er ab. Er hat sich eine Maske übergezogen, hinter der er sich verschanzt und hinter der er seine verletzlichen Weichteile schützt. Und plötzlich merkt er, dass es jetzt im Äusseren prima geht. Alle reden und handeln gerne mit Masken. Dem Äusseren gefällt dies, weil sich das Äussere selber gefällt. Der Jedermann im Innern aber kommt sich nun deplaziert vor, wie ein Niemand. Er macht die Erfahrung, wie es ist, wenn die Welt das Innere beleidigt.

Nun kommt der Aufstand des Niemand. Er bricht wie ein Löwe hervor und möchte den Ursprung seiner Leidensgeschichte vernichten, den Kiosk anzünden, den Brunnen vergiften. Festgehalten ist in diesem Bild die Szene, als Eulenspiegel mit der Fackel das Haus anzünden will. Die Nonne steht an der Seite des Ohres und streckt ihm das Babykleidchen entgegen. Doch der Löwe wendet ihr den Rücken zu, mit solchem Kitsch lässt er sich nicht besänftigen. Dafür hat er jetzt kein Gehör. Die Eule entfliegt, sitzt hinten auf dem Ast eines abgestorbenen Baumes. Der Löwe Jedermann ist nun Brandstifter. Er sperrt seinen Rachen auf am Ort, wo das äussere Auge ist. Das starrende Auge zeigt sein reissendes Gebiss, und es droht, den ganzen Menschen niederzubrennen. Das Verborgene steht in Flammen, es brennt dort, wo das schlafende Auge ist. Der Löwe, Ausdruck der Königlichkeit, der Sonnenseite des Menschen, des inneren Lichtes des Menschen, ist auf die falsche Seite gekippt und fällt in Raserei.

Nun aber kommen wir zu einer merkwürdiger Stelle in dieser Geschichte. Der einzige Moment, in welchem der Verstand eine wirklich entscheidende Rolle spielt, indem er den Jedermann bei dieser Raserei anspricht und darauf hinweist, dass er ihn jetzt verlässt. Damit ist die Raserei kurz unterbrochen. Und die Dramaturgie, die schon klar auf die Verbrennung seines eigenen Hauses hinauslief, ist damit gewendet. Nur das Unlogische bricht den Mechanismus der Raserei.

 
Die Suppe

Es ist naheliegend, beim letzten Bild zu denken, dass jetzt, an der siebten Station, am Ende der Geschichte, also in der Gegenwart, die Suppe ausgelöffelt werden muss, die man sich selbst eingebrockt hat. Das ist ein hohles Sprichwort. Hat sich der Jedermann sein Schicksal selber eingebrockt? Will er weiter auf dieser schreckensstarren Seite der Äusserlichkeit verharren? Will er an allem, was ihm misslungen ist, selber Schuld sein, nur um den Triumph der logischen Umkehr geniessen zu können, dass er auch selber geleistet hat, was ihm gelungen ist? Die neue Welt ist überfüllt mit solchen Genies von eigenen Gnaden. Man nennt sie heute Idole, früher hiessen sie Götzen.

Die Stimmung ist hier aber eine ganz andere. Der Jedermann kniet am Boden. Er ist nackt, hat sein Narrenkleid über den Zaun gehängt und isst die Suppe, deren Geruch an der Wende im letzten Bild mitbeteiligt war. In der Hand hält er den Löffel. Dieser Löffel erinnert an den Spiegel vom ersten Bild. Doch in ganz anderer Haltung wird er nun verwendet. Es ist, als sei durch diesen Wandel der Haltung der Spiegel zum Löffel geworden. Nicht das Äussere starrt nun in den Spiegel der Seele, um erkennen und sehen zu können, sich zu vergewissern, wie und was und wer man ist. Das Äussere will das Geheimnis nicht mehr auslöffeln. Die Blickrichtung hat sich umgekehrt. Das Innere schöpft mit dem Löffel aus dem Suppentopf des Äussern in sein Geheimnis hinein. Das Innere spiegelt sich aber nicht im Äusseren. Das Innere schöpft die Äusserlichkeit in sein Inneres hinein, nimmt die Äusserlichkeit zu sich, ins Geheimnis. Schäbig, aber köstlich mundet diese Suppe, der Drache und die Jungfrau sind versöhnt. Die Hochzeit hat also doch stattgefunden!

 

 

 

 
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