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Daniel Ambühl  Bildweg  Berlin 1997   Dokumente

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x Bauen an der Welt

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X Begleitheft zum Bildweg in Berlin 1997

 

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Inhalt

Gäste in der Welt  >
Zum Bildweg  >

1.  Vom Schielen 
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2.  Vom Zielen 
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3.  Jakobs Traum 
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4.  Die Flucht 
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5.  Der Fischzug 
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6.  Die Mahlzeit 
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7.  Das Paar 
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Gäste in der Welt

Seit Menschengedenken wird an der Welt gebaut. "Seit Menschengedenken" bedeutet auch: seit der Mensch den geschichtlichen Raum betreten hat, wobei wir uns dessen klar sein sollen, dass die Vorgeschichte nicht unbedingt eine "Ungeschichte" sein muss, sondern uns davon einfach eine historische Erinnerung fehlen könnte. Unser Begriff der Kultur hat sehr viel mit dieser Erinnerung zu tun, und auch die mit ihr in Zusammenhang stehenden Vorgänge wie Verdrängung, Täuschung, Macht und Hoffnung.

Wir wissen, dass der Mensch eine biologische Erinnerung hat - nicht nur von Jahrtausenden, sondern von Jahrmillionen. In der Entwicklungsgeschichte hat sich eine vielfältige Welt im Menschen gebaut mit ihren komplexen Verknüpfungen und Hierarchien von Trieben und Bedürfnissen, aber auch mit unbewussten Sinnzusammenhängen, die dann wieder als Chiffern und Symbole in unser Bewusstsein treten.

C.G. Jung nannte diese urtümlichen Chiffern und Symbole "Archetypen". Sie weisen darauf hin, dass der Mensch sich erinnern kann an tiefliegende Schichten seiner Entwicklungsgeschichte, wo die gesamte anorganische und organische Welt in ihm ruht und er von dorther auftauchende Bilder mit seiner Gegenwart verbindet. Die ganze Welt scheint im Menschen zu sein und der Mensch die ganze Welt.

Der Hinweis der Archetypen führt aber weiter, in eine Schicht, die jenseits derer des biologischen Entwicklungsgeschehens hinreicht. Die Archetypen nämlich kennen keinen Raum und keine Zeit. Nur deshalb können sie ja in jeder Zeit und an jedem Ort, in jeder Gegenwart eines jeden Menschen auftauchen und sich dort mit den jeweiligen Gegebenheiten verbinden. Sie sind in diesem Sinne "abstrakt": Auszug des Wesentlichen, entnommen und weggezogen von den zufälligen Einzelgeschehen an der Oberfläche der Erde, hinuntergesickert in die tieferen Schichten und von dorther wieder Erscheinungsformen und Wachstum auf der Erde nährend.

Wo fängt diese Bewegung an? Für unser Denken sicherlich im Vorgang des Abstrahierens selbst, im Auszug des Wesentlichen aus dem einzelnen Geschehen und den Chiffern der Welt. Für unser Leben aber und sein Wachstum sowie für das Wachstum unseres Denkens, die Bildung, beginnt die Bewegung in den tieferen und tiefsten Schichten des Nichtbewussten, wo als Essenz die Archetypen ruhen, jenseits von Raum und Zeit. Und je mehr diese das Kleid von Raum und Zeit ausgezogen haben, desto inniger wirken sie auf den Menschen in seiner Gegenwart, desto transparenter machen sie das Einzelgeschehen zu verborgenen Schichten hin, in denen ein Zusammenhang sich deutlicher zeigt, eben gerade deshalb, weil dort Raum und Zeit weniger trennt und weniger mit Distanz uns täuscht.

Kultur, in welcher der Mensch in seinem Leben und seinem Denken wächst, zusammenwächst mit den Seinen und der ganzen Welt, steht und fällt mit Geschichte und Erinnerung. Nennen wir sie doch "Geschichten". Nicht nur, weil in der historischen Geschichtsschreibung - wir wissen es seit Jakob Burckhardt - ebenfalls "nur" subjektiv gefärbte Geschichten erzählt werden, sondern vorallem auch, weil Erinnerung - archetypische, biologische und historische - uns im Wesentlichen durch Geschichten überliefert werden.

Je abstrakter die Geschichten sind, je entschiedener Raum und Zeit von ihnen abgezogen sind, desto tiefer führen sie uns in die Schichten des Menschseins selbst. Die Bandbreite reicht von der Tagesschau - der persönlichen und auch der am Fernsehen präsentierten - über die politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse mit zeitgenössischem oder historischem Interesse bis hin zu Romanen, um dann, am abstraktesten Ende, bei den Mythen und Märchen anzukommen.

Wir sehen gleich: Abstraktheit bedeutet nicht, dass eine Geschichte lediglich noch aus kalten Formeln, weltfremden und unsinnlichen Figuren und Modellen besteht. Besonders in der bildenden Kunst muss diese Tendenz als eine Übergangsphase verstanden werden, die einer vom Realismus erdrückten Wahrnehmung die Freiheit tieferer Schichten zurückzugeben sucht, aus der nicht neuer salbungsvoller Symbolismus mit seinem unreifen Ernst entsteht, sondern die heitere Fülle einer fast kindlichen Sehnsucht nach Geschichten.

Gerade in Mythen, Märchen und Träumen begegnen wir dieser bunten Vielfalt und wahrhaftigen Lebendigkeit - wahrhaftig eben im Wesentlichen durch ihr Weggezogenein von unmittelbaren zeiträumlichen Bezügen und ihren nützlichen Zweckmässigkeiten. Dieses Weggezogensein zieht den Leser und den Hörer solcher Geschichten mit, zieht ihn hin ganz nah zur Ewigkeit, ganz nah zur tiefsten Schicht, wo die Quelle sprudelt für das Leben in der Zeit.

Kein Erzähler und keine Geschichte kann von der Ewigkeit wissen. Doch gibt es solche, in denen von der Ewigkeit geträumt wird. Nicht aus religiösen, frömmlerischen oder weltanschaulichen Gründen wird in diesem Buch von biblischen Geschichten erzählt, sondern weil sie unsere Kultur seit Jahrtausenden und immer wieder geprägt haben. Und - weil sie oft aus der gesunden und lebendigen Abstraktion in den Zwang eines krankhaften und unfrei machenden Realismus oder in den vom Ernst verbitterten Symbolismus gefallen sind, so dass kein Mensch mehr Lust verspürte, von ihnen zu hören und ihre Geheimnisse zu ergründen.

Die Erinnerung an einzelne biblische Geschichten sind in uns wach geblieben, und wir müssten sie aus unlauteren Motiven verdrängen, gehören sie doch zu den Bausteinen unserer Kultur. Die Unlauterkeit der Motive, wie sie auch heissen mögen: Unverständnis gegenüber der Nebensächlichkeit von his-torischem Realismus in der Bibel; Ärgernis einer Gemeinschaft im Glauben, die oft derart unvernünftig oder unpraktisch scheint; oder gar simple Verleugnung der Ewigkeit und einer ewigen Quelle des Menschseins überhaupt - die Unlauterkeit dieser Motive fällt auf den Menschen zurück. Nicht weil er eine Sünde begeht durch die Verletzung einer Regel, eines Gesetzes, sondern weil er sich selber trennt und absondert von seinem ursprünglichen Wesen, das in den Schichten ruht des Unzeitgemässen, die gerade deshalb so unzeitgemäss scheinen, weil sie sich dem Ewigen nah fühlen.

Die Bibel selbst und die Überlieferungen erzählen uns, dass die biblischen Geschichten von dieser Quelle dort kommen. Und nicht nur für einzelne religiöse Gruppen, sondern für unsere gesamte Kultur könnte gelten, dass sie in uns die Erinnerung an diese Quelle wachhalten. Freier müssten wir dann aber mit diesen Geschichten umgehen, schöpferischer, aber auch abstrakter, lebendiger.

Wir könnten zum Beispiel, im Zusammenhang mit den Archetypen, vom Arche-Typ sprechen, von Noah. Im alles Menschliche erdrückenden und überflutenden Realismus des Nur-Erscheinenden, des Nur-Äusserlichen nimmt er die ganze Welt in seine Arche, in sein "Wort", was der hebräische Begriff für Arche, "teba", eigentlich bedeutet. Mit diesem "Wort" ist der Archetyp gemeint, der in den tiefsten Schichten des Menschen verborgen ist und in seiner Gegenwart erscheint und diese nicht nur mit allen Menschen, allen Räumen und allen Zeiten in Verbindung bringt, sondern mit der Ewigkeit. Und der Name Noah bedeutet im Hebräischen "Gnade, Ruhe, Trost". Aus dem Archetyp und daraus, wie er uns verbindet und vereint, kommt uns die Gnade einer tröstlichen Vermittlung und Versöhnung und eine heitere Ruhe und Gelassenheit, die Kraft uns schenkt für die Begegnungen in der Zeit.

Der Arche-Typ befreit uns mit seinen Geschichten vom Ausgeliefertsein an das reale Einzelgeschehen in der Zeit, das in seiner Vereinzelung oft so starken Zwang ausübt. Seine Geschichten abstrahieren und schaffen dadurch Zusammenhang über Zeit und Raum hinweg. Eine andere biblische Geschichte erzählt von dieser Abstrahierung. Abstrakt ist etwas, wenn von ihm der Zwang der äusserlichen Erscheinung abgezogen ist; es ist der Auszug des Wesentlichen aus einem real erscheinenden Ereignis oder Ding. Israel - und das bedeutet in der biblischen Sprache die menschliche Seele, wie sie in den tiefsten Schichten verborgen ist, nahe bei der Ewigkeit - ist im Exil in Ägypten. Ägypten aber nicht als reales Land; dies wäre grausam, wie es eben krankhafter Realismus immer ist. In der biblischen Sprache bedeutet der Archetyp "Ägypten" der Zwang, der gerade dieser krankhafte Realismus auf die Seele ausüben kann, wenn sie sich dort im Exil befindet. Sie hat ihre Heimat noch nicht gefunden; sie sehnt sich aber nach ihr und stöhnt unter der Unterdrückung durch einen ihr fremden Wertmassstab der Leistung und des Survival of the fittest.

Mit dem Auszug aus Ägypten wird Israel befreit aus diesem Zwang und erlebt nun eine grosse Reise durch die Wüste. Wüste aber bedeutet in der biblischen Bildersprache auch "Sprechen" und "Erzählen". Die Geschichten also, die wir nach dem Auszug aus Ägypten - abstrahierend sozusagen - erzählen und immer wieder hören, führen ins Gelobte Land, führen in die Heimat, die nicht nur irgendwo da draussen ist, sondern im Wesentlichen im Menschen als sein Menschsein selbst, genährt aus allen Schichten.

Das Bauen an der Welt bedeutet also, dass wir an einem Haus bauen, in dem die Geschichten, sprudelnd aus den verschiedensten Schichten des Lebens, eine Heimat finden und wir mit ihnen. Dieser Hausbau ist Geschichte, doch nicht unsere "grossen Taten", unsere "grossen Leistungen" bauen dieses Haus, sondern unsere Erinnerung - Baustein um Baustein -, unsere Offenständigkeit gegenüber den Geschichten aus der Arche Noah und unser Mut zum Auszug aus Ägypten.

Unsere Offenständigkeit ist die Gastfreundschaft, mit der wir Freund und Feind in diesem Haus empfangen, und der Mut ist dann der Mut zum befreienden Gespräch. Gastfreundschaft ist Grundlage aller Kultur; verlieren wir sie, fällt das Haus zusammen, weil es bedeutungslos geworden ist.

Eine Erinnerung taucht in dieser Geschichte auf: Sind wir nicht alle Gäste in der Welt, in der aus der Quelle der Ewigkeit schöpfenden Welt?

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Zum Bildweg

Jede der sieben Platten des Bildweges zeigt ein eigenes Bild. Für das achte, das Gesamtbild, das auf keiner Platte zu finden ist und nur der einzelne Bildgänger für sich selbst erschafft, werden vom Einzelbild nur bestimmte Partien abgedruckt, so dass auf dem achten Bild die sieben anderen lediglich andeutungsweise, als Erinnerung, zu erkennen sind.

Der Bildweg erzählt eine Bildergeschichte, die darin ihren Sinn erhält, dass die einzelnen Motive in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Es ist also für das Verständnis entscheidend, auf die sich wiederholende Bildstruktur zu achten und die einzelnen Motive, die auf den sieben Bildern jeweils an der gleichen Position zu finden sind, auch miteinander in eine inhaltliche Verbindung zu bringen.

In den folgenden Erläuterungen wird diesem Umstand Rechnung getragen, doch lohnt es sich, auch selber noch weitere Zusammenhänge und Verbindungen zu finden.

Für den Interessierten ist es auch möglich, von den einzelnen Platten separate Abriebe herzustellen, um die in diesem Buch nur umrisshaften Einzelbilder in allen Details zu erhalten und dann die vielschichtigen Bezüge schöner zu erkennen.

Auf jeden Fall wünschen wir uns, mit diesem Bildweg etwas von der Freude und der Überraschung vermitteln zu können, aus wieviel Schichten und Geschichten eine Sache doch besteht - sei es nun ein Bild, ein Ereignis oder ein Mensch.

 

 

Vom Schielen

 

Es gibt verschiedene Arten, ein Haus zu bauen; verschiedene Arten auch, an der Welt zu bauen. Die unterschiedlichen Ansichten darüber, was das Beste sei für den Menschen, trennt diese oft gerade und baut Mauern auf, um ihn von der Ansicht des Anderen zu schützen. Die eine Sichtweise, das eine Auge, will dann von der anderen Sichtweise, vom anderen Auge nichts mehr wissen.

Es kommen aber immer wieder Zeiten, wo wir die Nase voll haben von Mauern. Wir schielen um die Ecke, um den Anderen in den Blick zu kriegen. Doch so einfach geht es nicht; ein Auge kann nicht das andere Auge sehen, wohl aber sein Blickfeld teilen, auf der gleichen Augenweide, auf der gleichen Wiese weiden. Vielleicht wäre dies dann der Grenzstreifen, das Brachland, auf dem seltsame Gewächse spriessen. Nichts Nützliches wächst da zuerst; eher Unkraut, wie wir es nennen mögen, von dem aber Schmetterlinge leben und wo Hundehalter sich begegnen.

Die Wunde, wie sie im Grenzstreifen nach dem Abbruch der Mauer zurückgelassen wurde, muss langsam zuwachsen und das neue Leben die alten Narben überwachsen. Gerade das Unkraut, der zweckfreie, absichtslose und geduldige erste Aufbruch des Lebens im neuen Land, wäre heilsam für die Wunde. Aber die Forderungen der sogenannten Einheit rufen, ja schreien bald, und lassen keine Ruhe für die Einheit selbst.

An einer gemeinsamen Welt zu bauen bedeutet auch, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, Stein um Stein vom falschen Ort - in einer Mauer zum Beispiel - wegzunehmen und an seinen richtigen Ort zu stellen, wo er verstanden wird und Bestand begründet. Doch welcher ist der richtige Standpunkt?

Der dem Menschen angemessene, nein: zugemessene Standpunkt kann nur zusammen eingenommen werden. Beide Augen müssen schauen, nicht nur vorsichtig und umsichtig, sondern auch vielschichtig. Geschichten werden dann gebaut, die uns allen Wohnung bieten. Begegnung beginnt mit diesem Blickkontakt.

Wenn wir zu stark schielen, wenn wir zu stark auf die Nase, auf die trennende Mauer schielen, wird’s uns schwindlig. Die Welt als Ganzes verschwindet aus dem Blick; wir verschliessen entweder beide Augen oder nur das eine und zielen mit dem anderen.

 

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Vom Zielen

 

Der Zyklop zeigt das Sehen mit nur einem Auge. Dieses Sehen ist ein Zielen - wie mit einem Speer - das dann das Andere, die Welt, als Beute zu erlegen sucht. Ein solches Sehen gehört dem Jäger, aber auch dem Banditen, dem Piraten und den Generälen. Dieses vereinzelte Auge schaut durch eine Linse und schiesst das Foto aus der Dunkelkammer wie aus der Höhle der Zyklopen.

Sind sie nicht die Riesen, die starken Unbesiegten, denen alles möglich ist, die Berge versetzen, aber nicht aus dem Glauben, sondern mit dem Willen? Ihr Wille scheint hemmungslos, unwiderstehlich und erfolgreich ohne Grenzen. Sie sind Giganten und bauen an der Welt, als sei sie ein Nichts. Doch wohnen tun sie in der dunklen Höhle, wo kein Licht und keine Frau sie je besucht. Ein einziges Zyklopenauge dulden sie noch in ihrem Heim, und dies nennen sie dann Fernsehen, weil sie Nähe nicht ertragen können.

Der Zyklop kann alles, ausser mit zwei Augen schauen. Kann er vielleicht gerade deshalb alles, weil sein anderes Auge ihn nicht stört dabei? Weil eine andere Sichtweise, ein anderer Blickwinkel ihn nicht frägt, ob es noch andere Schichten gibt? Der Zyklop hinter seiner Flinte wird nicht erschreckt durch die Welt am Ende seines Zielfernrohres, auch nicht durch die Welt des anderen Auges, sondern dadurch, das er trifft. Alle Welt stirbt um ihn, und er ist und bleibt alleine. Seine Beute gehört ihm zwar, doch gehört er nie dazu, denn sie ist schon tot, zu einem Höhlenbild erstarrt und wird ihm seine Sehnsucht nie erfüllen dort.

Der Zyklopenblick macht alles, was er sucht, nach dem er sich auch sehnt, scharf und genau umrissen. Die Unschärfe, das Unfassbare, das Geheimnis muss ausgeschlossen werden wie das andere Auge. Für die Jagd, für das kalte Kalkül, für das Beutemachen gibt es nichts, das mehr Erfolg verspricht; die Zwecke, die Nägel des Kalküls bestechen das andere Auge mit den Argumenten ihrer Willenskraft. Und nur der, der unbestechlich bleibt angesichts der riesenhaften Übermacht an Wucht und Forwärtsdrall, sich nicht von Zauberei und Technik blenden lässt und so mit beiden Augen Einsicht hat in die eindeutigen Absichten eines titanischen Bauens an der Welt, nur ein solcher freier Mensch - wie ein Odysseus oder David - steht mit beiden Augen in der Welt.

 
Jakobs Traum

 

Hinter der Maske des Zyklopen, hinter der Fratze des Gestaltlosen verbirgt sich ein Ausblick. Eine Lichtung tut sich auf. Dasjenige, worauf der Einäugige zielte, ist nicht auf diese Weise, sondern nur absichtslos zu erhalten. Dem mit Willen, Planung und Berechnung Erreichbaren fehlt die Lebendigkeit mit ihren unfassbaren Schichten, aus denen etwas hineinfliesst in das von uns Gemachte und da hinzutritt, wo wir in unserem Wollen und Können stehen.

Wenn wir also an der Welt bauen, so steht und fällt das ganze Werk mit unserer Gastfreundschaft, mit der wir das Hinzutretende begrüssen. Galt in jeder Kultur nicht der Brunnen in der Mitte der Gemeinschaft als Zeichen der Gastfreundschaft gegenüber diesem Hinzutretenden, das da aus den Tiefen unseres Nichtbewussten aufsteigt wie ein Traum? Wir müssen etwas tun, um an unserer Welt zu bauen; wir müssen wollen, denken, planen, ausführen und vollenden. Doch für das gelungene Werk gilt auch, dass es in ihm ein Geheimnis des Mörtels gibt, der alles zusammenhält.

Das Bauen an der Welt bedarf einer Ruhe, in der ein Fundament gefunden werden kann, auf das wir bauen können. Im Hebräischen sind "Fundament" und "Geheimnis" im gleichen Wort vereint. Jakob träumt von diesem Geheimnis als Fundament des Menschen, träumt von diesem Brunnen, der im Bild der Himmelsleiter alle Schichten miteinander verbinden kann. Jakob ist die schöpferische Ruhe, ein "Nicht-Tun" im Menschen, das nicht nur dem Tun vorausgehen, sondern dieses durchdringen, zu diesem hinzutreten muss, um ihm die Zutat beizumischen, die das Bauen an der Welt erst in ein schöpferisches, mit der Schöpfung versöhntes Tun verwandelt.

Jakob muss aber auch mit Esau, seinem Zwillingsbruder, kämpfen. Esau ist der harte Realismus, ein kraftstrotzender Riese und Jäger. Der Jäger Esau flieht vor seinem stillen Bruder, um ihn loszuwerden. Jakob lässt ihn nicht und kämpft mit ihm, bis er Oberhand gewinnt. Dieser Kampf geschieht im Menschen immerzu, und in schöpferischen stillen Stunden könnte er das Flehen Jakobs hören, das den Esau zu beschwören sucht: "Ich lass Dich nicht, es sei, Du segnest mich."

Die Segnung würde bedeuten, dass das Tun im Äusseren die Stimme und die Stimmung Jakobs in sich zur Geltung bringt, unsere Hoffnungen und Wünsche, unsere Sehnsucht nach einer Heimat, die nicht nur im Äusseren besteht. Es sind dies die Engel, die da auf der Leiter in die Mitte unseres Seins, an die Quelle steigen, um von dort die Kraft zu bringen für unser Tun hier auf der Erde.

 

 
Der Biss des Wolfes

 

Wenn sich Esau weigert, Jakob zu segnen, ihn also in sein Tun gastfreundlich aufzunehmen, dann muss der Traum von Jakob, alle Schichten zu berühren und von der Quelle her die Welt zu bauen, vestummen. Nein, er verstummt nicht, dieser Traum; immer lauter, immer beharrlicher meldet er sich zu Wort und stört das verbissene Treiben des Zyklopen Esau. So wird die Leiter einfach zugemauert, und was dem Jakob im Traum geschenkt wurde, will man jetzt aus eigener Kraft erreichen: den Himmel erstürmen und von dort den geheimnisvollen Schatz entwenden, wie Prometheus das Feuer von den Göttern stiehlt, um die Welt hier selber zu erhellen und zu wärmen. Doch wir wissen, was dann geschieht: die Feuer werden kalt, und das Licht blendet uns mit seiner Macht.

Der Turm von Babel wird mit Ziegeln aus gebranntem Lehm gebaut. Kein Lebensodem wird ihm eingeblasen, wie es Gott mit Adam tut, um ihn zum Menschen in seinem Ebenbild zu machen. Der Lehm wird getrocknet und gehärtet, um als Backstein nutzbar zu sein für den grossen Bau. Der Mensch muss isoliert werden von seinem Jakob, in eine Form gepresst, so dass er - erstarrt und unlebendig - in das Kalkül des Realismus passt, der Israel in Ägypten gefangen hält.

Der Ägypter ist auf dem Bild - wie es im alten Ägypten üblich war - zweidimensional dargestellt. Die dritte Dimension, die Tiefe, fehlt ihm. Er lässt Israel, die Seele, erstarren in ihrem Dienst am Äusseren, bewacht, ja terrorisiert vom Wolf des kalkulierten Zwanges, der den Menschen verbissen macht in der Verfolgung seines Zieles.

Das Ziel aber - wir sahen es bereits - ist nicht mit dem absichtsvollen Zielen eines Jägers zu erreichen, sondern dadurch nur zu töten. Das Ziel des Turmbaus, so heisst es in der Geschichte, ist es, sich einen Namen zu erschaffen. Dieses Ziel wird nun verfolgt. Name heisst in der hebräischen Sprache "Schem" und bezeichnet dort dann auch die Seele, die ewige Einzigartigkeit des Menschen und seine Freiheit im Geheimnis seines Selbst. Der Name ist ein Geschenk von Gott. Ein "Antisemit" wäre dann jemand, der die Annahme des Geschenkes dieser Einzigartigkeit des Menschen ablehnt und alles vermassen, alles an die Oberfläche zerren, das Geheimnis und die Freiheit verraten muss.

Die Gnade ist ein Ärgernis; der Traum Jakobs ist ein Ärgernis. Wir wollen es doch selber machen, uns selber einen Namen, Ruhm und Ehre abverdienen. Es ist der Dienstzwang von Israel in Ägypten.

 

 
Sodom und Bethlehem

 

Durch das Bauen an der Welt in dieser Haltung entsteht eine Stadt wie Sodom. Dort herrscht Ordnung und Klarheit der Gesetze. Im Gegensatz zur Anarchie von Räuberbanden und zur Willkür der Diktatoren heisst das oberste Gebot in Sodom: "Dein ist Dein, und Mein ist Mein." Wie steht es aber mit der Gastfreundschaft?

Wenn jemand in Sodom zu Besuch kommt, wird er zuerst auf ein Normgerüst gebunden und auf dessen Masse hin gestutzt oder auch gestreckt. Nur Lot nimmt zwanglos Gäste auf. Sie sind Engel aus Jakobs Traum und erzählen ihm Geschichten, Märchen von einer anderen Lebenshaltung, einem anderen Bauen an der Welt: "Der Mensch ist Gast in einer Welt, die schon gebaut und schon gesegnet ist. Er könnte sich aber erbauen an der Welt, könnte in ihr zum Menschen werden, der Mut zum Wagnis hat, das Normale zu durchbrechen, das in der hebräischen Sprache "Krankheit" heisst, durchbrechen zum Gesunden hin, das dort in "schöpferische Kraft" und "Spannung" seine Worte findet."

Wo aber findet dann der Mensch die Wohnung, die ihm Schutz und Heimat bietet, wenn er das Gewöhnliche verlässt? Es ist eben ein grosses Wagnis, dieses neue "Dein ist Dein, und Mein ist Dein", das sich ein Haus zu bauen wünscht, in dem die Überraschung, der Traum von Jakob leben kann und in dem Gäste heimisch sind, die diesen Traum auch teilen.

In dieser Hoffnung ist der Mensch wie Josef und Maria, die in keinem Haus erwünscht und erwartet werden und in einem kleinen Stall ihr grosses Kind zur Welt bringen. Auch dieser Ort, Bethlehem, beschreibt eine Haltung im Menschen. Bethlehem bedeutet "Haus des Brotes". Hier werden ebenfalls Bausteine gebacken, jedoch keine Ziegel mehr, sondern Nahrung für das Leben. In Bethlehem bittet der Mensch um das tägliche Brot, das ihm Tag für Tag vom Schicksal dann gegeben wird. Er bittet nicht mehr um den Weizen wie in Babylon und Sodom, bittet nicht mehr um die Kraft des Wachstums und des Selbermachens, sondern schon um seine Ganzheit, die ihm geschenkt wird in seinem Namen. Dieses Bittenkönnen ist die Freiheit, die ihn löst vom Ziegelsein, vom Bauenmüssen an der äusserlichen Welt und ihn löst vom Starrkrampf des Bisses durch den Wolf.

Was in jenem Stall geboren wird, ist der Sohn des Menschen. Im Hebräischen aber heisst "Sohn" auch "Bauen". Von Bethlehem her wird an einer menschlichen Welt gebaut, und gerade das Feuer des verbrennenden Sodom, der untergehenden sodomitischen Haltung, bäckt das Brot des Lebens.

 

 
Das Haus der Fische

 

Der Wunsch nach Ganzheit, der Wunsch nach dem eigenen Namen führt aber nicht an der Welt vorbei, sondern mitten in das Leben hinein. Dort möchte der Mensch erkannt sein in seinem Wünschen. Er liebt doch diese Welt und möchte - vielmehr als nur eigenmächtig an ihr zu bauen - eine Beziehung mit ihr aufbauen und mit allen anderen Gästen auch. Gerade seine Sehnsucht, erkannt zu werden, könnte ihm die Offenheit schenken, den anderen Gast in seiner Ganzheit zu erkennen, in seiner Erlöstheit aus dem Zwang des Ziegelsteins, den jeder in der Welt doch auch empfindet. Dann würden wir den Menschen kennenlernen als einen Fisch.

Fisch nämlich bedeutet in der biblischen Bildersprache der "erlöste, ewige Mensch". Ist es nicht der Wunsch eines jeden Menschen, diesem Fisch zu begegnen, und ist es nicht auch sein Wunsch, dort willkommen zu sein, und in der Schicht, wo er in seiner Ganzheit schon besteht, erkannt zu werden? Gerade dort aber, wo der Mensch Fisch ist, bleibt er stumm. Schweigen verbirgt dieses Geheimnis seines erlösten Seins, und alles Reden, alles Suchen kreist um eine Mitte, die nie festzumachen ist, sondern ihm gelassen werden könnte in der Freiheit seines Namens.

Dadurch entsteht eine heitere Gelassenheit, denn die Welt und der Mensch sind ewig. Alle Unvollkommenheit und alles Scheitern, wie sie durch den Fluss der Zeit, der alles immer wieder auseinandertreibt und die klare Sicht trübe macht und den Menschen dann betrübt, alles Fehlen und Verfehlen, wie es in der Welt doch üblich ist, ist dann nicht mehr gar so wichtig. Der Mensch könnte in einer solchen heiteren Gelassenheit den anderen Menschen, ja die ganze Welt aus dem trüben Wasser fischen. Das ist möglich, wenn er das Auge des Zyklopen schliesst und den Traum von Jakob träumt; es ist möglich, wenn er aus dem Born seiner verborgenen Schichten schöpft und jene Geschichten hier erzählt.

Es gibt eine Stadt in der Bibel, und die heisst Niniveh, übersetzt: das Haus der Fische. Mit Niniveh ist diese Welt gemeint, in der wir wohnen. Pharao ist der König dieser Stadt. Er war doch der Zwinger in Ägypten, doch nun ist er auch ein Fisch. Die Ewigkeit fängt im Leben an, und alle Fische verfangen sich in ihr. Es ist eine neue Gefangenschaft als Bund der Liebe. Dieser Bund baut das Haus der Fische, sammelt dort das ganze Leben in einer Gemeinsamkeit und schenkt als Gemeinsamkeit auch Sprache, die gerade auch im Schweigen gültig ist.

 
Der Hunger der Rahab

 

In der Sattheit der Zugehörigkeit zur Ziegelherde ist das Gehör nicht mehr offen für eine solche Sprache. Bestätigungen der eigenen Nützlichkeit im Betrug des sich selbst gegebenen falschen Namens verstopfen die Poren der Haut mit Talgpfropfen einer Hörigkeit, die zur Taubheit wird gegen jegliche Berührung.

Wir können diese Offenheit, diese heitere Gelassenheit, dieses Bauen an der Welt von Bethlehem her nicht machen. Es bedarf der Sehnsucht nach einer solchen Lebenstimmung, und Sehnsucht meint doch Hunger. Was ist nun diese Sehnsucht, dieser Hunger? Oder wir können auch anders fragen: Wo baut der Hunger seine Wohnung hin?

Rahab, und ihr Name bedeutet eben "Hunger", bewohnt ein Haus direkt auf der Stadtmauer Jerichos. Da kommen zwei Kundschafter von Israel, der Seele. Niemand will sie aufnehmen in der satten Stadt, doch Rahab, weil sie Sehnsucht hat nach dem neuen Leben aus der Quelle, nach dem noch zu Kommenden, bietet ihnen ihre Gastfreundschaft an. Gerade deshalb hört sie die Schritte der Israeliten, weil sie auf der Grenze steht, auf der Mauer als Grenzwall dieses Jerichos, weil sie nicht mehr dazugehört zu diesem grenzenlosen Bauen an der Welt, zu dieser Kraft des Weizens, und wartet auf das Brot von Bethlehem, das ihren Hunger stillen könnte.

Rahab lässt ein rotes Seil hinunter als Zeichen des Willkommenseins. Wie eine Angelrute lässt sie diesen Faden, an dem ihre ganze Sehnsucht hängt, hinab in die tiefsten Schichten von sich selbst, aber auch des anderen, um diesen Fisch zu fangen, der doch Ewigkeit bedeutet. Zugleich wird sie aber selbst gefangen in diesem Hunger: die Kundschafter aus Israel ziehen sie zu sich und retten sie beim Untergang von Jericho.

Ist die Ewigkeit also nur ein Köder, der uns in unserem Elend des Scheiterns im Bauen an der Welt zu fangen sucht?

 

 

 

 
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Daniel Ambühl und Thomas Primas
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