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Daniel Ambühl  Bildweg  Ludwigsburg 

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x Die Wandtafel 
in der 
Blindenschule

 

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Erzählung zum Bildweg in Ludwigsburg

Der Originaltext dieser Erzäöhlung liegt auch als Hörbuch vor. Die Lesung von Daniel Ambühl können Sie gratis downloaden als mp3-Files. 
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XKapitel

Einleitung  >

1.  Blumenkohl Amsel Januar
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2.  Wandtafeln
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3.  Zweifel
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4.  Wagnis
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5.  Neuland
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6.  Krieg
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7.  Hochzeit
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Einleitung

Ich bin 54 Jahre alt, verheiratet, habe drei Kinder, bin von Beruf Landwirt und wohne in der Umgebung von Ludwigsburg. Der Name, der in meinem Personalausweis eingetragen ist, lautet: Bëajot. Die meisten nennen mich aber einfach Beat. Das ist okay. Bëajot ist auch nicht mein wirklicher Name, sondern nur die phonetische Schreibweise für die Abkürzung B. A. J. In dieser Abkürzung steht das B für Blumenkohl, das A für Amsel und das J für Januar. Es ist klar, dass man Blumenkohl Amsel Januar nicht in einen Personalausweis schreiben darf. Deshalb steht da Bëajot. Aber wie gesagt: Die meisten nennen mich Beat, und das ist okay.

Wissen Sie übrigens, woher das Wort “okay” kommt? Es stammt aus der Zeit der Freiheitskriege in Nordamerika. In der Nacht nach den Gefechten ist jeweils der Kommandant des Lagers an den Zelten seiner Soldaten vorbeigegangen, um zu zählen, wieviele seiner Männer in der Schlacht umgekommen sind. Er rief vor jedem Zelt: “How many killed?” - wieviele wurden getötet? - und der Gruppenführer im Zelt antwortete zum Beispiel :”Three killed” oder “Zero killed”. Bei “Zero killed” trug der Kommandant in seine Liste ein “0K”, die Abkürzung für “Zero killed”: Keiner umgekommen. O-kay.  Wussten Sie das schon? Wenn man es nicht weiss, ist es auch okay.

Niemand hat bisher diese Geschichte über die Herkunft des Wortes “okay” bezweifelt. Alle halten sie für wahr. Ich übrigens auch. Und man erzählt sie auch gerne weiter. Sie ist irgendwie einleuchtend. Wenn es allerdings darum geht, etwas über meinen seltsamen Namen zu erfahren und darüber, woher ich eigentlich komme, dann möchten dies zwar viele Menschen gerne wissen, aber so einleuchtend wie die Herkunft des Wortes “Okay” ist diese Geschichte beileibe nicht. Meine Geschichte ist wirklich eine ganz andere Geschichte. Wenn Sie etwas Zeit haben, erzähle ich Sie Ihnen aber dennoch gerne. Wenn Sie keine Zeit haben: Ist auch okay. Dann nennen Sie mich einfach Beat.

Wussten Sie übrigens, dass Beat vom lateinischen Beatus kommt und heisst: der Wohlgeborene? Aber Beatus ist eigentlich auch eine Abkürzung, nämlich für bene und natus. Bene heisst: gut. Natus heisst: geboren. Nun wissen Sie es. Wie? Ja, Sie haben Recht! Was heisst denn schon “gut”? Und was “geboren”?

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1. Station

Blumenkohl Amsel Januar

Das Land, in welchem ich aufwuchs und meine Jugend verbrachte, heisst Rutan. Obwohl es ein mächtiges und riesiges Land ist, ist Rutan auf keiner Landkarte verzeichnet. Das hat seine guten Gründe. Alle Menschen, die in Rutan leben, sind blind. Für die Menschen in Rutan ist Blindheit aber kein Problem, denn wenn alle blind sind, gibt es eigentlich Blindheit nicht. In der Sprache von Rutan existierten nicht einmal Worte für “blind” oder “sehen”, noch für Farben, Glanz und Schein. Die Dinge haben für den Rutaner kein Aussehen. Ein Kürbis ist eben einfach ein Kürbis. Der sieht nicht unreif oder gelb oder orange aus. Wenn ein Kürbis da ist, ist er ein Kürbis. Und sonst eben nicht.

Das oberste Gesetz in Rutan heisst “Das Gesetz des Weges”. Die Wege sind heilig und werden peinlich sauber gehalten. Niemals darf ein Rutaner diese Wege verlassen, sonst wird er, wie es heisst, vom Unland verschlungen. Weil man die Wege in Rutan nicht sehen kann, liest man ihren Verlauf mit den Füssen. Die Bewohner Rutans gehen alle barfuss, und vom Belag des Weges lesen sie mit den Fussohlen alles, was sie wissen müssen: Zum Beispiel, wann und wo eine Kreuzung kommt, wohin die Abzweigungen führen, welches Haus am Wegrand liegt, wie der Weg heisst oder wie weit es bis zur nächsten Stadt ist. Auch Werbung liest man von den Wegen und Hinweise auf Veranstaltungen. Gewisse Wege sind Zeitungen, die man mit den Füssen lesen kann. Gesundheitswege sind mit speziellen Belägen versehen, die bei bestimmten Erkrankungen Heilung verschaffen. Andere Wege wiederum sind Unterhaltungswege, bei deren Begehung man eine Geschichte lesen und erleben kann. Und dann gibt es natürlich viele Labyrinthe. Ja, die Labyrinthe sind das grosse Spektakel von Rutan. Manche sind mehrere Quadratkilometer gross, und es können sich darin gleichzeitig Hundertausende von Menschen aufhalten, und diejenigen, die ins Innerste des Labyrinths gelangen, werden wie Könige gefeiert.

Im Gegensatz zu uns müssen die Menschen in Rutan nicht arbeiten. Sie erhalten alles, was sie sich wünschen, ohne dass sie dafür etwas zu tun brauchen. Am Kürbisweg liegen immer Kürbisse bereit, die man nur bequem aufzunehmen braucht. Am Lauchweg liegt Lauch bereit; er ist auch schon abgeschnitten, ohne Wurzeln. Und auch der Weizen am Weizenweg ist schon geerntet und in Säcke abgepackt. Das Brot fixfertig. Die Hühner gerupft. Und das Kalb geschlachtet. Fische liegen am Trockenen. Kohlen auf Haufen.

Geld kennt man in Rutan nicht, weil es nichts zu bezahlen gibt. Weshalb das so ist, ist den Rutanern keineswegs ein Rätsel. Sie wissen genau: Die Dinge sind da, weil man will, dass sie da sind. Wenn man richtig will, dann sind sie auch da. Und dazu erst noch jedes Ding an seinem Ort. Der Kürbis am Kürbisweg. Der Fisch am Fischweg.

Für alles, was man will, braucht man nur einen Weg zu bauen und diesen Weg nach dem Gegenstand zu benennen, den man haben will. und schon am nächsten Tag liegen die Dinge am Wegrand bereit. So einfach ist das in Rutan.

Das Merkwürdigste an Rutan aber ist: Die Menschen, die dort leben, sind ausschliesslich Männer - blinde Männer. Es gibt in Rutan kein einziges weibliches Wesen. Keine Frauen, keine Mädchen, keine Schwestern, Mütter, keine Familien. Die blinden Männer von Rutan wissen nichts von Liebe, Hochzeit, Geburt. Nicht einmal die Worte für Frau, Mann, Mutter, Vater, Eltern, Verwandte und Familie kennen sie. Wenn man sie fragt, woher sie kommen, dann sagen sie: Aus Rutan!

Etwas aber haben die Rutaner mit uns gemein: Wie alle Menschen wachsen auch sie heran, werden alt und sterben. Aber seltsamerweise sterben sie nicht aus. Nein, es kommen merkwürdigerweise immer wieder neue blinde Männer hinzu. Die Bevölkerung von Rutan nimmt gar stetig zu. Woher aber kommen diese neuen Männer, die Säuglinge, Kleinkinder und die Knaben, wenn es doch keine Frauen, Mütter und keine Geburt gibt? Dies ist nun eine Frage, die man nur stellen kann, wenn man ausserhalb von Rutan lebt. In Rutan ist sie völlig absurd, denn es gibt da keine Zeugung, kein Wachsen, keine Herkunft, keine Abstammung. Es ist mit den Kindern in Rutan wie mit Kürbissen. Sie sind entweder da oder nicht. Weil das so selbstverständlich ist, ist jede Frage nach ihrer Herkunft einfach abwegig, irr.

Eine Besonderheit beim Auffinden der Kinder ist aber berichtenswert. Sie werden nicht an bestimmten Wegen, sondern an allen Wegen aufgefunden. Derjenige, der ein Kind findet, ist dann sozusagen der Vater, obwohl es das Wort und die Bedeutung von Vater nicht gibt. Auch “Finder” ist nicht das richtige Wort, weil man ja in Rutan nichts sucht. Man braucht zum Beispiel den Kürbis nicht zu suchen. Er ist einfach am Kürbisweg immer da. So ist es auch mit den Kindern. Sie sind einfach da. Man weiss, dass sie da sind, weil man ihr Schreien oder Wimmern am Wegrand hört.

So war es auch bei mir. Es war an einem kalten, aber sonnigen Januartag vor 54 Jahren, als ein Mann mit dem Namen Apfel Wespe September auf dem Blumenkohlweg unterwegs war. Wahrscheinlich wollte er gerade zum Kaffee- oder Kohlenweg gehen, um sich dort mit anderen Rutanern zu unterhalten. Da hörte er mein leises Weinen am Wegrand. Ich war mit Tüchern fest eingebunden und lag neben einigen Blumenkohlköpfen in einem mit einem Schaffell ausgelegten Filzkasten im Schnee. Apfel Wespe September tastete sich zu mir heran, nahm mich auf und wartete, während er mich glücklich an sich drückte, auf das erste Geräusch, das er vernehmen konnte. Denn das erste Geräusch, welches der Finder hört, gibt dem Kind den mittleren Namen. Es war in meinem Falle der aufgeregte Ruf einer Amsel. Nun wissen Sie also, weshalb ich Blumenkohl Amsel Januar heisse. Aber Sie können mir auch Beat sagen. Das ist okay.

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2.Station

Wandtafeln

“Wir haben eigentlich alles. Und doch ist mir dies zuwenig!” An diesen Ausspruch meines Jugendfreundes Honig Wind August kann ich mich gut erinnern. Wir sassen in der angenehmen Kühle einer Sommernacht am Zuckerweg und horchten hinaus ins Unland. Noch heute höre ich jedes Zirpen, jede vorbeifliegende Blattlaus, jedes Ästchen im Wind wippen. Es roch nach Brennessel, Eisenkraut und süssem Gras. “Und weisst Du was?”, fragte Honig Wind August. Ich schwieg. Und er sagte: “Genau das macht mir unheimliche Angst, aber zugleich auch Riesenfreude.” Wir lachten. Da waren wir gerade 13 Jahre alt.

Sie denken vielleicht, weil wir in Rutan nur Knaben und Männer und erst noch alle blind waren, wären wir unglücklich gewesen? Im Gegenteil! Was haben wir alles gehört, getastet, wie haben wir gespielt und uns unterhalten. Ich wuchs in einem grossen Haus mit vielen Knaben auf, die im gleichen Alter waren wie ich. Mit Honig Wind August teilte ich ein Zimmer. Morgens frühstückten wir in einem grossen Saal, dann gingen wir zur Schule. Alles, was wir bei uns hatten, war ein Schreibstift, der allerdings keine Mine oder Feder besass. Es war ein gedrechseltes Holzstück; an beiden Enden abgerundet und poliert und etwa anzusehen wie ein Dirigentenstab. Und dann hatte jeder Schüler noch seine eigene Wandtafel bei sich. Dies war auch für uns ein grosses Rätsel. Wir waren blind, besassen und beherrschten aber eine Schrift. Wir konnten diese Schrift nicht lesen, wussten aber dennoch genau, was wir geschrieben hatten. Denn diese Wandtafeln konnten auf wundersame Weise lesen, was wir schrieben. Und nicht nur das! Diese Tafeln konnten auch sprechen, und sie lasen uns vor, was wir gerade geschrieben hatten. Jeder Schüler hatte eine eigene, eine persönliche Wandtafel. Man konnte die Wandtafeln am Klang ihrer Stimmen mühelos unterscheiden. So wusste man auch immer, wer was geschrieben hatte.

Diese Wandtafeln waren bestimmt das Geheimnisvollste und Wertvollste, das wir in Rutan besassen, unser grösster Schatz. Wir durften diese Wandtafeln niemals berühren, da sie sonst sogleich verstummten. Wir schrieben also nicht eigentlich auf die Wandtafel. Vielmehr schrieben wir mit dem hölzernen Griffel in kreisenden Bewegungen Satz für Satz in die Luft. Und die Wandtafel las uns das Geschriebene Satz für Satz vor. Für alle laut und deutlich vernehmbar. Diese Wandtafeln aber speicherten nichts, was zuvor geschrieben wurden. Es war, als wischte die Wandtafel nach jedem Satz die Schrift weg, auf dass sie von Neuem beginnen konnte. Man brauchte eigentlich in Rutan nichts aufzuschreiben, denn unser Gedächtnis war phänomenal. Stundenlange Vorträge konnten wir jederzeit mühelos wortwörtlich wiedergeben. Was einmal gesagt oder erlebt wurde, vergassen wir nie wieder. Deshalb existierten von Rutan auch keine Landkarten mit Wegverzeichnissen. Jeder hatte sein gesamtes Wegverzeichnis immer in seinem Gedächtnis bei sich. Die erfahrensten, die alten und weisen Rutaner kannten wirklich jeden einzelnen Stein auf jedem Weg in Rutan, jede Geschichte und alle Bewohner dazu.

Das einzige Schulfach, das wir in Rutan kannten, hiess: “Wollen”. Wir mussten lernen, richtig zu wollen, und das lernten wir mit Hilfe der Wandtafel. Dies ging zum Beispiel so, dass ein Schüler in die Luft schrieb: “Du bist ein Hase”, und seine Wandtafel vorlas: “Du bist ein Adler”. Dann war klar, dass er den Hasen nicht richtig “gewollt” hatte. Er hatte vielleicht gemeint “Hase”, aber nicht richtig “gewollt”. Der Schüler musste also üben, bis die Wandtafel auch las: “Du bist ein Hase”, wenn er schrieb: “Du bist ein Hase”. Die Übung bestand dann darin, über den Hasen und den Adler mehr zu erfahren und mehr zu wissen, bis sie nicht mehr verwechselt wurden. Die Wandtafel war sozusagen unser Übungsinstrument, um das richtige Wollen zu trainieren.

So etwas wie Berufe gab es in Rutan nicht, da ja alles umsonst da war und also auch nichts hergestellt werden musste. Das einzige Ziel jedes Schülers in Rutan war: Er wollte Wegbauer werden. Der Wegbauer baute neue Wege, an welchen dann genau das bereit lag, was er wollte. Dieses Bauen war aber keine Arbeit. Es war die höchste Ehre, die einem Rutaner zuteil werden konnte. Und nur wer ein Meister des Wollens war, konnte Wegbauer werden.

Die Einweihung der Wege ging so vor sich, dass alle Wegbauer - manchmal waren das über Hundert Menschen - sich auf dem neuen Weg aufstellten und gleichzeitig in die Luft schrieben “Wir wollen, dass hier Kürbisse sind!” und dass dann die Wandtafeln der Wegbauer in einem Chor ertönten: “Wir wollen, dass hier Kürbisse sind!” Las auch nur eine Wandtafel etwas anderes vor, musste der betreffende Wegbauer weggeschickt, der Weg neu gebaut und die Einweihung wiederholt werden. Sprachen aber alle Tafeln “Wir wollen, dass hier Kürbisse sind!”, dann waren von diesem Moment an an diesem Weg immer Kürbisse, und der Weg hiess dann: Kürbisweg.

Nun konnte aber auch das Schreckliche geschehen, dass einem Rutaner die Wandtafel weggenommen wurde. Dies war die härteste Art der Bestrafung in Rutan. Wobei es nicht so ist, dass irgend ein anderer Rutaner diese Wandtafel zu sich genommen hätte. Jeder konnte nur auf seiner eigenen Wandtafel “schreiben”. Sie waren nicht auswechselbar, nicht ersetzbar. Vielmehr war es so, dass die Wandtafel ihre Stimme verlor. Dies konnte dadurch geschehen, dass der Rutaner seine Wandtafel berührte. Aber auch dadurch, dass er sie beschmutzte, zum Beispiel, indem er vor Gericht die Unwahrheit sagte.

In Rutan gibt es nur ein einziges Gericht, und jeder Prozess verläuft genau gleich. Der Angeklagte wird vorgeladen. Der Richter fragt ihn: “Bist Du unschuldig?” Der Angeklagte sagt :”Ich bin unschuldig”. Dann muss der Angeklagte mit seinem hölzernen Griffel in die Luft schreiben: “Ich bin unschuldig”. Wenn seine Wandtafel darauf antwortet “Ich bin unschuldig”, ist er frei. Wenn nicht, hat er seine Wandtafel beschmutzt, und sie verstummt von dem Augenblick an. Der Schuldige bleibt aber frei und darf wieder gehen. Doch wie kann ein Mensch in Rutan leben, wenn seine Wandtafel verstummt ist?

 
3. Station

Zweifel

Am vierzehnten Juli vor genau dreiunddreissig Jahren - da war ich eindundzwanzig Jahre alt -, es war morgens um viertel nach drei, stürmte ein Wegbauer in mein Zimmer ohne anzuklopfen: “Blumenkohl Amsel Januar?”, fragte er in einem sehr strengen Ton. “Ja”, antwortete ich benommen. Der Wegbauer hiess Seife Glocke Dezember, ein älterer, sehr liebenswürdiger Mann, einer meiner früheren Lehrer. Doch jetzt war er aufgebracht. “Wo ist Honig Wind August?”, forschte er. Ich tastete zum Bett meines Freundes hinüber. Es war unbenutzt. “Ich weiss es nicht!” antwortete ich. “Schreib auf Deine Wandtafel: “Ich weiss es nicht!”, befahl Seife Glocke Dezember. Nun wusste ich, dass etwas sehr Ernstes, etwas Ungeheuerliches geschehen war. Ich tat wie befohlen und schrieb “Ich weiss es nicht.” Meine Wandtafel antwortete: ”Ich weiss es nicht.” “Du gehst jetzt raus und schliesst Dich dem Suchtrupp an!”, herrschte mich der Wegbauer an. Ich ahnte, was dies bedeutete. Honig Wind August war vom Weg gegangen. Draussen vor dem Haus warteten schon viele Freunde und auch einige Wegbauer. “Wir gehen zum Zuckerweg!”, gab einer Anweisungen, und auf dem Zuckerweg gingen wir dann zwei Stunden auf und ab, während wir immer wieder ins Unland riefen: “Honig Wind August!” Doch vergeblich. Mein Freund blieb unauffindbar.

Die nächsten Tage war ich Hauptzeuge in der Untersuchung des Vorfalles. Zu meinem grossen Erstaunen war aber eigentlich schon alles klar. Ich merkte, dass die Wege offenbar sehr genau überwacht wurden, denn aus den Fragen der Wegbauer war klar, dass Honig Wind August an einer ganz bestimmten Stelle den Zuckerweg verlassen hatte, ja sogar, dass zunächst versucht wurde, ihn aufzuhalten, dass dies aber nicht gelungen sei. Dies erschütterte mein bisheriges Weltbild in den Grundfesten, denn ich war bis anhin der Meinung gewesen, man könne sich auf den Wegen von Rutan frei bewegen und unbelauscht äussern. Nun wurde mir mit einem Male klar, dass man alle Details unserer Unterhaltungen am Zuckerweg längst kannte. Aber erst jetzt, als man mir diese Gespräche nochmals vortrug, wurde mir auch bewusst, dass Honig Wind August immer schon diesen Drang hatte, das Geheimnis des Weglosen und das Unland zu entdecken. Und dass er offenbar auch bereit war, dafür zu sterben. Weshalb hatte ich das damals nicht gemerkt; nicht ernst genommen?

Zur Beerdigung meines Freundes kamen viele Menschen. Der Friedhof bestand aus einem gigantisches sternförmigen Gitter von Wegen, das in zwölf Segmente aufgeteilt war. Im August-Teil, zu äusserst, versammelten sich die Trauernden. Zwei Wegbauer hatten von einem der Hauptwege aus ein kurzes, schmales Wegstück ins Unland gebaut. Am Ende dieses Weges wurde der Sarg ins Grab gelassen. Auf dem kleinen Wegstück konnte man mit den Füssen lesen: “Honig Wind”. Jeder der Trauergemeinde ging vom Hauptweg aus dieses kleine Wegstück bis zu einer Linie, die auf dem Weg markiert war. Dort still stehend, schrieb der Abschied Nehmende in die Luft: “Lebe wohl!”, und die Wandtafel sprach “Lebe wohl!” Man erzählte aber, dass dieses “Lebe wohl!” nicht von der Wandtafel des Trauernden gesprochen werde, sondern von der Wandtafel des Verstorbenen. Und auch, dass die Wandtafeln aller Verstorbenen am Ende ihrer kurzen Beerdigungswege immer anwesend seien. Ich war überzeugt, dass das tatsächlich so war.

In den nächsten Tagen packte mich eine quälende Frage immer wieder: “Wie konnte man sagen, Honig Wind August sei tot, obwohl man doch nicht wusste, wo er war?” Wie ein Albtraum stieg diese Frage in beinahe jeden meiner Gedanken hinein, machte ihn zunichte und setzte sich an seine Stelle. Als dieser Zustand unerträglich wurde und ich fürchtete, dem Wahn zu verfallen, entschloss ich, meinen alten Lehrer Seife Glocke Dezember aufzusuchen und ihn um Rat zu bitten. Er wohnte in einem kleinen Haus an der Wegbauerstrasse. Bevor ich anklopfen konnte, hatte er schon die Türe geöffnet. Er empfing mich höflich, aber mit einem sehr besorgten: “Es ist gut, dass Du zu mir kommst.” Er bat mich, Platz zu nehmen. “Blumenkohl Amsel Januar....” Seine Worte kamen einzeln und überdeutlich daher, als wollte er verhindern, dass auch nur ein einzelner Buchstabe verloren gehen könnte: “.. Du bist in einer äusserst schwierigen Lage. Ich weiss nicht, ob Du Dir dessen bewusst bist. Und ich bin nicht sicher, ob Du die Tragweite, die das Ereignis des Todes von Honig Wind August für Dich hat, ermessen kannst.” Ich schwieg. Dann sagte ich “Ja.” Ich hörte, wie sich mein alter Lehrer im Raum auf und ab ging und sich schliesslich vor mich stellte: ”Offen gesagt”, fuhr er weiter, “sind Deine Chancen sehr klein. Ich erwarte von Dir aber, dass Du sie packst. Es geht jetzt um Dein Leben. Verstehst Du das? Um Leben oder Tod.” Ich wusste, dass er recht hatte. “Es ist etwas in Dich gekommen. Blumenkohl Amsel Januar. Etwas sehr Gefährliches, Tödliches. Es ist die Idee, dass in diesem Unland etwas sein könnte, dass das Unland ein Land sei. Das ist das, was in Dich gekommen ist.” Wieder ging der alte Lehrer im Raum auf und ab. “Ich will alles versuchen, Dir zu helfen, dass Du diese Idee wieder los wirst. Aber ehrlich gesagt, ich weiss auch nicht, wie ich Dir helfen soll. Ja, die schreckliche Wahrheit ist die, dass wir Wegbauer in Rutan alles mit unserem Willen vermögen, nur dies nicht, dass diese Idee aus Dir für immer verschwindet.” Ich meinte zu hören, wie der alte Mann leise weinte. Seine Stimme war gebrochen, und er machte eine längere Pause. Als ich versuchte, ihn zu trösten und sagte: “Ich werde das schon schaffen!”, begann ich selber zu weinen.

Man kümmerte sich in den folgenden Tagen und Wochen wirklich rührend um mich, aber je mehr man mich einlud, umso fremder kam mir alles vor. Und es war, wie der alte Mann gesagt hatte: Diese Idee, dass das Unland ein Land sein könnte, wurde ich nicht los. Im Gegenteil. Sie Idee ergriff mehr und mehr und schliesslich mit unglaublicher Wucht von mir Besitz.

 

 
4. Station

Wagnis

Sonderbare Veränderungen nahm ich an mir wahr. Ich spazierte auf den Wegen von Rutan und interessierte mich überhaupt nicht dafür, was die Füsse lasen. Labyrinthe langweilten mich. Meine Ohren aber waren zu riesigen Schüsseln geworden, die ins Unland gerichtet waren, und meine Nase so gross wie ein Kirchturm, der ins Weglose schnupperte. Eigenartige Dinge vernahm ich da. Ich vermeinte manchmal, eine menschliche Stimme zu hören oder ein ungewöhnliches Geräusch, als ob sich ein Rad im Wind drehte. Ich versuchte herauszufinden, ob dieses Geräusch von einem Weg von Rutan kommen könnte, der vielleicht in der Richtung lag, von welcher ich das Geräusch vernahm. Eine Begeisterung und eine Art Fieber hatte mich ergriffen. Die Todesangst, die mich seit dem Verschwinden meines Freundes beherrscht hatte, war verwandelt.

Ich forschte nach Wegen, die an der äussersten Grenze des Landes lagen, weil man nur von ihnen aus mit hinreichender Sicherheit annehmen konnte, dass Stimmen und Geräusche, die von aussen kamen, nicht von Rutan stammten. In meinen Gedanken schritt ich die ganze Landkarte von Rutan ab, und zu meinem grossen Erstaunen war der erste Weg, den ich als geeignet fand: Der Zuckerweg. Doch dahin konnte ich nicht hingehen. Ich mied diesen Weg seit dem Tode von Honig Wind August. Es existierten aber noch andere solche Aussenwege.

Mir fiel auf, dass die Wege in Rutan zwar oft zu Abzweigungen und Kreuzungen kamen, dass aber niemals ein Weg ein Stück Unland ganz umschloss. Es existierten keine Wege, die im Kreis herum führten. Jeder Weg in Rutan kam irgendwann an ein Ende, und man musste da wieder umkehren. Die einzige Ausnahme waren die riesigen Labyrinthe, aber diese waren auch keine Wege, an denen es etwas gab, keine Kürbisse, keine Häuser; es gab da nur Wege; Das Labyrinth war der Wegweg. Ich wusste zwar nicht, was dies bedeutete, aber ich war erstaunt, darüber noch nie etwas gehört zu haben. Was mochte der Grund sein für diese eigenartige offene Struktur aller Wege in Rutan?

Noch etwas anderes, allerdings etwas sehr Unangenehmes fiel mir auf. Eines Morgens sehr früh kam ich zurück nach Hause. Doch als ich in mein Zimmer trat, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Es roch anders. Die Türfalle fühlte sich anders an. Der Boden knarrte anders. Ich stand still. Und dann hörte ich aus der Richtung des Bettes eine Stimme: “Wer ist da?” Ich stürmte zum Haus hinaus. Hatte man mein Zimmer jemand anderem gegeben? Weshalb hatte man dies mir nicht gesagt? Ich eilte weg von diesem Haus. Bis ich plötzlich, als ich mit den Füssen zu lesen begann, merkte: Ich hatte ein falsches Haus betreten. Das Haus, das ich eben betreten hatte, lag an einem völlig anderen Ort als dasjenige, in welchem ich wohnte. Ich hatte dies nicht gemerkt, weil ich nicht auf meine Füsse hörte. Aber vor allem. Ich hatte mich verirrt. Ich hatte zum erstenmal etwas vergessen.

Was in den folgenden drei Tagen geschah, kann ich nur noch in groben Zügen wiedergeben. Es geschah zu viel, zu schnell. Ich wurde vor Gericht geladen. Man verhörte und befragte mich zu meinen Ausflügen und Erkundungsgängen. Man kannte detailliert jede Bewegung, die ich gemacht hatte. Durch die Verhöre erahnte ich, wie das Überwachungssystem der Wege funktionierte. Es musste der Weg selber sein, der jeden Schritt, den ein Rutaner auf ihm ging, registrierte. Und es musste auch dieser Weg sein, der Alarm schlug, wenn jemand ihn verliess oder sich auf ihm in ungewohnter Weise verhielt. Meine Wandtafel verstummte.

Von diesem Moment an war mir bewusst, dass ich nicht mehr zu Rutan gehörte. Soviel ich aber überlegte, wie ich den Weg überlisten könnte, umso klarer wurde mir, dass es unmöglich war. Also begab ich mich am nächsten Tag zum Oelweg, der an der äussersten Grenze von Rutan liegt. und aus vollem Gang machte ich eine scharfe Rechtswendung und spazierte einfach ins Unland hinaus. Zunächst geschah gar nichts. Das erstaunte mich. Ich stolperte zwar über ein kleines Fass; doch dann lag Kies am Boden. Und ich ging einfach weiter. “Blumenkohl Amsel Januar”, rief eine Stimme vom Oelweg her: “Komm auf den Weg zurück.” Ich hörte nicht auf diese Stimme. Dornen zerkratzen meine Beine und Arme. Ich ging weiter. Da rief plötzlich eine andere Stimme. “Halt die Hand vor Deine Augen”. Ich verstand nicht, was diese Stimme meinte, aber sie kam bestimmt nicht vom Oelweg. Sie kam aus dem Unland, und ich bewegte mich genau auf sie zu. “Geh weiter”, rief diese Stimme, und ich begann zu eilen. Dann nahm ich meine linke Hand und legte sie über meine Augen. “Hier”, rief die Stimme. “Komm zu mir, geh weiter!” Doch nun durchzuckte mich eine Empfindung, die mich sogleich in eine Art von Trance versetzte. Es war, als stürzte die ganze Welt in mich hinein. “Halt die Hand vor die Augen!”, rief die Stimme nochmals, und ich drückte sie fester auf meine Nase. “Komm zurück!”, rief die Stimme vom Oelweg her, doch sie klang schon entfernt. Ich wusste nicht, was geblendet hiess, aber mir schien, als würde ich direkt in die Sonne stürzen. Und als ich kurz vor dieser Stimme angelangt war, die mir zurief: “Komm her, komm!”, nahm ich die Hände von den Augen, und als ich das erste mal sah, - wirklich sah - , sackten meine Beine weg, und ich stürzte zu Boden. Der Mann im Unland nahm mich auf seine Schultern und trug mich in ein Dorf. Ich sah zum ersten Mal einen Menschen, sah zum ersten Mal einen Baum, den Himmel, Farben. Es war zu tiefst absonderlich. Ja, dämonisch. Und am liebsten wäre ich gleich umgekehrt. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war wie gelähmt.

 

 
5. Station

Neuland

Drei Wochen lang konnte ich mich nicht bewegen, und die neuen Sinneseindrücke verschlugen mir die Sprache. Aber die Menschen im Unland schien das nicht zu beunruhigen. Der Mann, der mich in sein Dorf und in sein Haus getragen hatte, kam jeweils am Morgen und am Abend in meine Kammer, um zu sehen, wie es mir ginge. Tagsüber brachte mir seine Frau die Mahlzeiten und öffnete oder zog den Vorhang vor einem Fenster, das den Blick freigab zu bewaldeten Hügeln, zu einzelnen Häusern an den Hängen und zu Feldern, auf denen Menschen irgend etwas bauten, aber bestimmt keine Wege. Die Farbe des Himmels veränderte sich von Minute zu Minute, Wolken zogen vorbei, und auf dem Ast eines Baumes, der ganz nahe am Haus stand, beobachtete ich zwei Vögel. Es waren - wie ich an ihrem Laut vernahm - Amseln, und ich staunte, dass der eine braun und der andere schwarz war. “Ja, die Amseln”, lachte die Frau, als sie bemerkte, dass ich die Vögel beobachtete: “Sie haben ein Nest gebaut. Deshalb sind sie so aufgeregt.” Ich verstand zwar nicht, was die Frau meinte, aber ich wusste dennoch, dass sie recht hatte. Die Sprache war mir vertraut, aber das, was damit gesagt wurde, äusserst befremdlich. Was machen diese Menschen hier?

Eines Tages gegen Mittag öffnete die Frau die Türe zu meinem Zimmer, blieb aber unter dem Türrahmen stehen. “Da ist er!”, sprach sie zu einem Mann, der draussen gewartet hatte. Ihr Tonfall war besorgt und abweisend. Der Mann betrat mein Zimmer. Er trug eine Mütze mit einem goldenen Knopf, hatte ein wild entschlossenes Aussehen, angsteinflössend. Es blitze aus seinen Augen, dazu aber lächelte er mich auf unheimliche Weise an. Ich wusste, dass er mich kannte. Aber ich hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war. Wortlos näherte er sich meinem Bett. Als er meinen erschreckten Ausdruck bemerkte, begann er zu lachen. Ich zuckte zusammen. Von Ferne und doch von ganz nah kannte ich dieses Lachen. Doch bevor ich etwas sagen konnten, rief er “Blumenkohl Amsel Januar!”, beugte sich zu mir, nahm mich in die Arme. Ich war steif wie ein Brett. “Honig Wind August!” Es waren meine ersten Worte, seit ich die Wege von Rutan verlassen hatte. Mehr gestammelt als gesprochen. “Honig Wind August.” Ich vergrub mein Gesicht im Kissen. Sein Anblick war so unerträglich wie die Freude gross war, dass er hier bei mir war und dass er lebte. Er nahm meinen Kopf in seine Hände und drehte ihn zu sich. Als ich meine Augen öffnete, sagte er nur “Ja” und nickte mit dem Kopf. Nachdem wir uns eine Weile wortlos betrachtet hatten, sprach er: “Komm, wir machen einen Spaziergang!” Ich war erstaunt, dass ich tatsächlich aufstehen und mit ihm mitgehen konnte. Noch etwas wacklig waren meine Schritte. Aber es ging. Die Frau schaute uns unter der Haustüre stehend nach, wie wir das Dorf verliessen und einen Weg hinauf zu einem Berg einschlugen.

Honig Wind August und ich gingen nebeneinander her. Ich schaute auf den Weg. Mein Freund erzählte mir, was er in dem Jahr, seit er von Rutan weggegangen war, erfahren hatte. Zuerst berichtete er, dass wir in Rutan belogen worden seien. Und dass wir dies glücklicherweise geahnt hätten. Die Kürbisse, der Blumenkohl, Honig, Zucker und Kohle seien nicht an den Wegen von Rutan, weil die Wegbauer es wollten, sondern weil die Menschen, die hier im Unland lebten, sie da hinlegten. Die Menschen müssten hart arbeiten, um all diese Dinge herbeizuschaffen. Es dauere ein ganzes Jahr, bis der Weizen reif ist, er müsse gesät, gepflegt, geschnitten, gedroschen werden. Die Kohle käme aus tiefen Stollen, in denen die Menschen wie die Tiere schufteten. Zwar gäbe es auch Maschinen und Fabriken. Aber auch in ihnen müssten Menschen arbeiten, in Staub, Lärm und Schmutz. Doch immer, wenn in Rutan ein neuer Weg eingeweiht würde, würde man ihnen diesen Wunsch erfüllen und dafür sorgen, dass die Dinge, die die Rutaner wollen, auch immer am Weg zu finden sind. Die Menschen hier seien die Sklaven von Rutan. Aber dies werde sich nun bald ändern. Dann schwieg er eine Weile. Wovon sich denn die Menschen hier im Unland ernährten, wollte ich erfahren, wenn sie doch die Früchte ihrer Arbeit an die Wege von Rutan legten? “Vom Rest”, sagte Honig Wind August verächtlich. “Von dem, was die Rutaner achtlos liegen lassen.” Ich merkte, dass mein Freund wütend war.

Dann erzählte er von den Kindern. Alle Kinder und alle Menschen, die in Rutan lebten, seien hier im Unland geboren worden. Und zwar von Frauen. Wenn eine Frau und ein Mann zusammen seien, werde die Frau schwanger, und es dauere fast 10 Monate, bis das Kind zur Welt käme. Dann müsse es noch ein halbes Jahr an der Brust der Mutter genährt werden. Aber dann würden die Menschen vom Unland ihre Söhne nicht behalten und selber aufziehen, sondern an die Wege von Rutan legen.

An dieser Stelle blieb mein Freund stehen, schaute mir in die Augen und sagte: “Auch wir wurden hier im Unland geboren! Unser Vater und unsere Mutter leben hier. Aber wir wissen nicht, wer sie sind.” Als er mein ungläubiges Staunen wahrnahm, sagte er: “Du wirst bald verstehen, was ich meine.”

Oben auf dem Berg angekommen, bot sich uns ein überwältigender Anblick. Vom Fuss des Berges bis zum Horizont erstreckte sich eine Ebene, die mit Wegen in wundersamen Mustern durchzogen war. Dazwischen lagen einzelne Häuser, Dörfer, Städte. “Das ist Rutan”, bedeutete mir mein Freund und fügte hinzu: “Aber nicht mehr lange!”

Auf dem Rückweg erfuhr ich, dass sich Honig Wind August einer Truppe angeschlossen hatte, welche die Eroberung von Rutan und die Befreiung der Kinder zum Ziel hat. Ich solle mich dieser Armee auch anschliessen, beschwörte er mich. Er müsse nun zurück in seine Kaserne und käme in einer Woche wieder. Dann verabschiedete er sich an einer Kreuzung im Dorf. Die Frau schien erleichtert als sie mich alleine nach Hause kommen sah.

“Hat er Ihnen von den Mädchen erzählt?”, fragte sie, als ich ins Haus eintrat. Ich verneinte.

 

 
6. Station

Krieg

Es dauerte über ein Jahr, bis ich mich in groben Mustern orientieren konnte, auf welchen Bahnen und Wegen das Leben im Unland verlief. Vieles davon hatte mir Elisabeth erzählt, die Frau meines ersten Gastgebers. Sie widersprach sehr heftig den Äusserungen meines Freundes, dass man die Kinder aus freien Stücken an die Wege von Rutan lege. Vielmehr sei es so, dass die Kinder im Unland gar nicht überleben könnten. Würde man sie bei sich behalten, stürben die Knaben in kürzester Zeit nach dem Abstillen. Weshalb, das wisse man nicht. Und bei den Mädchen sei es so, dass sie nur vier Jahre im Unland leben könnten, danach aber einem der blinden Knaben versprochen und nach Rutan gebracht würden; dort begleiteten sie den ausgewählten Knaben fortan als Wandtafel. Dass diese Wandtafeln eigentlich Mädchen seien, wüssten aber die Knaben nicht, weil sie ihre Wandtafeln nicht berühren dürften. Selbst dann, wenn sie verstummt seien, blieben die Mädchen still bei ihrem Auserwählten. Immer nur nachts, wenn die blinden Männer schliefen, würden sie sich an geheimen Orten im Unland treffen, miteinander sprechen und Essen zu sich nehmen.

Im übrigen sei es zwar wahr, dass alle blinden Knaben, Jünglinge und Männer und die Mädchen im Unland geboren seien. Anderseits sei es aber auch so, dass alle Menschen, die hier im Unland lebten, einst in Rutan waren. Auch sie, Elisabeth hätte einst ihren Mann in Rutan begleitet als Wandtafel. Erst hier im Unland seien sie sich wieder begegnet, hätten geheiratet und hätten nun schon fünf Kinder, die vielleicht noch in Rutan lebten.

Alle Früchte ihrer Arbeit legten sie an die Wege Rutans, weil sie sich wünschten, dass es ihren Kindern, aber überhaupt allen Menschen in Rutan gut ergehe und dass sie glücklich seien. Vom Rest könne man leben. Mal gut, mal weniger gut.

Diese Sicht des Unlandes hatte mich überzeugt, auf dem kleinen Hof meiner Gastgeber mitzuarbeiten. Wie ich hörte, wuchs aber auch die Armee, der sich mein Freund angeschlossen hatte, und das Kommando liess verlauten, die Eroberung und Zerstörung Rutans sei nur noch eine Frage der Zeit. Elisabeths Mann hatte sich deshalb einer Gruppe angeschlossen, die im Falle eines Angriffs auf Rutan gegen diese Armee kämpfen wolle, um zu verhindern, dass die Kinder in Rutan umgebracht würden. Diese Gruppe war aber klein und schlecht ausgerüstet, weil die meisten ihrer Anhänger Familienväter waren, die auf einem Hof oder in einer Fabrik arbeiteten. Es drohte ein Bürgerkrieg. Niemand wusste, wann er ausbrechen würde. Und die Gefahr stieg weiter an. Auch viele unverheiratete Frauen hatten Kampftruppen gebildet und hatten den Menschen im Unland den Krieg erklärt, weil sie das ungerechte System von Rutan unterstützten, sei es, indem sie ihre Güter an die Wege Rutans legten, sei es, dass sie ihre Knaben und Mädchen dort abgaben, vor allem aber weil es noch immer Frauen gab, die überhaupt Kinder haben wollten und auch Kinder kriegten. Immer wieder hiess es auch, es sei nun endlich ein Mittel gefunden gegen diesen seltsamen Tod der Kinder und der Säuglinge im Unland. Es wurden komplizierteste Labors erfunden und gebaut, in denen Kinder im Unland vielleicht drei, vielleicht sogar zehn oder dreissig Jahre leben konnten. Aber sie konnten das Labor nie verlassen.

Ich versuchte, mich aus Parteinahmen heraus zu halten und machte mich auf dem Hof meiner Gastgeber nützlich. Aber mehr und mehr fühlte ich mich in diesem Unland einsam. Dies war ein Gefühl, das ich in Rutan nicht gekannt hatte. Elisabeth bemerkte diese Stimmung als erste und sprach mich darauf an: “Deine Verlobte ist irgendwo da draussen”, versuchte sie mich zu trösten “Sie sucht Dich bestimmt! Ich weiss, dass zwei Menschen, die so lange zusammen waren, sich einst auch hier wieder sehen.”

“Wie habt Ihr Euch denn wieder gefunden?”, fragte ich sie. Doch da wurde sie verlegen. Als ich am Abend ihrem Mann dieselbe Frage stellte, begann dieser prustend zu lachen: “Das war an einem gemeinsamen Manöver zwischen der Männerarmee, die Rutan zerstören wollte, und der Frauenarmee, die das Unland zerstören wollten!” Zuerst schaute ich ihn entgeistert an, dann aber begann auch ich mit ihm zu lachen; so laut, dass Elisabeth erschreckt zu uns eilte, um zu erfahren, was geschehen sei. Es war das erste Mal, seit meinem Weggang von Rutan, dass ich wieder lachte. Aus tiefstem Herzen lachte.

Schon wenig später jedoch trat das Schreckliche ein, das Unvorstellbare. Der Krieg war ausgebrochen. Die Männerarmee bewegte sich auf Rutan zu. Die Truppen der Frauenarmee stürmten einzelne Dörfer und Städte im Unland und verwüsteten die Felder. Die dritte Gruppe versuchte zwar sowohl Rutan als auch die Dörfer und Städte im Unland zu schützen. Aber wie konnte eine handvoll Männer an zwei Fronten gegen die Übermacht solcher Armeen bestehen? Dazu noch ohne geeignete Ausrüstung? Nun wurde die Arbeit auf dem Hof noch härter, denn es fehlten viele Arbeitskräfte, und ein Teil der Ernte wurde durch den Krieg vernichtet. Ich schloss mich schliesslich der kleinen Gruppe an. Am Tag arbeiteten wir auf den Feldern. In der Nacht hielten wir Wache. Eine schlaflose Zeit war angebrochen.

Eines Tages, als die Zerstörung von Rutan und die Zerstörung des Unlandes schon weit fortgeschritten war, wurde den Generälen beider Armeen plötzlich klar, dass es eigentlich zu Rutan und zum Unland keine wirkliche Alternativen gab. Entweder gab es beide oder gar nichts. Und so verwandelte sich der Krieg der Männerarmee gegen Rutan und der Krieg der Frauenarmee gegen das Unland bald in einen Krieg der Männerarmee gegen die Frauenarmee, wobei nie klar war, wer eigentlich wofür und wogegen kämpfte. Nur etwas war offensichtlich: Die einsamen Herzen der Männer kämpften gegen die einsamen Herzen der Frauen. Die Grausamkeit dieser Schlachten übersteigt jede menschliche Vorstellung. Doch das Blutvergiessen der einmsamen Herzen schützte zugleich Rutan und das Unland vor der vollständigen Vernichtung, wenngleich es beide in Mitleidenschaft zog.

 
7. Station

Hochzeit

Dies alles liegt viele Jahre zurück. Es blieb beim alten und war doch alles neu. Ich verliess den Hof meiner Gastgeber und zog in die Stadt. Abends ging ich spazieren, aber nie in Rundgängen. Immer nur hin und zurück. Wie damals in Rutan. Eines Tages im Sommer war ich früh wach und beschloss, ausnahmsweise einen Spaziergang vor der Arbeit zu unternehmen. Ich wählte wie immer einen Weg, den ich noch nie gegangen war, und gelangte schliesslich zu einem grossen Tor, das offen stand. Viele Leute strömten hinein. Es war Markt. Einen solchen Markt hatte ich noch nie gesehen. Die Gassen und Quergassen schienen endlos. Und zu beiden Seiten der Gassen waren die verschiedensten Gemüse zu hohen Türmen aufgeschichtet. Fenchel, Kartoffeln, Maiskolben und alle Arten von Kürbissen leuchteten im aufgehenden Sonnenlicht. Es war einfach alles da, was man sich denken konnte. Ich liess mich mit der bunten Menge der Menschen mittreiben. Vor einer Auslage von Blumenkohl blieb ich stehen. Da merkte ich, dass nirgends Verkäufer hinter den Waren standen, und ich war etwas verwirrt. Konnte man diese Äpfel und Kirschen und diesen Blumenkohl einfach mitnehmen? Das konnte ich nicht glauben. Ich schaute mich um und sah, dass die anderen Menschen die Waren tatsächlich einfach in ihre Taschen packten und davon gingen. Schliesslich nahm ich all meinen Mut zusammen und ergriff einen prächtigen Blumenkohl, wollte mich gleich umdrehen und weggehen, da stiess ich mit einer Frau zusammen. Ich entschuldigte mich, und sie sah wohl, dass ich das erste mal hier war: “An den Ausgängen sind die Kassen!”, rief sie mir zu und verschwand in der wogenden Menschenmenge.

Am Abend, als ich von der Arbeit nach Hause kam, legte ich den Blumenkohl auf den Rüsttisch in der Küche. Ich war zu müde, um ihn noch zu kochen, so wusch ich ihn, brach ein Stück heraus und biss hinein. Und erst jetzt, erst bei diesem Biss, nach so langen Stunden, durchfuhr es mich wie ein Blitz: “Das war sie!” Ich stürzte die Treppe hinunter nach draussen, versuchte mich zu erinnern, wo mich der morgendliche Weg hingeführt hatte, doch ich verirrte mich immer wieder. “Das war sie!”, redete ich zu mir. “Oh, wie vergesslich bist Du geworden!” “Ich habe sie doch noch nie gesehen!” “Aber ihre Stimme!”. Erst, als es schon spät nachts war, gelangte ich erneut zu dem Tor und trat ein. Da war nun aber kein Markt mehr, sondern ein wunderschöner, einsamer Schlosspark voller Blumen und Wasserspiele, die ich im morgendlichen Rummel übersehen hatte. Auch das Schloss fiel mir erst jetzt auf. Es deutete mit seinen vielen Fenstern zum prächtigen, nachtblauen Garten hin; zu den unzähligen feinen Kieswegen, über denen der Duft von tausendundeiner Rose lag. Ich ging jeden der Wege auf und ab. Und als ich schon aufgegeben hatte, da erkannte ich sie: Sie sass auf der untersten Stufe der Treppe, die zum Schloss führte - und schlief. Ich weiss nicht, wie lange ich einfach vor ihr auf dem Boden sass und sie betrachtete. Ich wollte sie auf gar keinen Fall wecken. Nur wach bleiben und sie anschauen. Doch plötzlich berührte mich jemand sanft an der Schulter. Es war sie, die mich weckte, denn ich war am Boden eingeschlafen, und es war schon heller Morgen.

Was soll ich noch sagen? Unsere Stimmen waren uns vertraut. Aber an unser Aussehen mussten wir uns erst gewöhnen. Das war für uns beide etwas völlig Neues. Unsere Kleider und Gesten, unser Gesicht, Augen, Mund, Nase, Ohren. Unsere Haare und unsere Körper; Hände, Füsse... Es war ein spannendes Gewöhnen. Das bist Du?

Wir heirateten mitten im Krieg, und meine Frau wurde schwanger. Es war eine schwierige Zeit. Und die Kriege drangen manchmal bis in unser Haus. Doch immer war es ihre Stimme, die jeden Zwist erlöste. Nicht einmal die Worte waren es; ihr Klang allein genügte.

Das Kind, das uns geschenkt wurde, war ein Knabe. Hell und strahlend wie der frische Sonnenschein. Viel zu schnell nahte aber schon die Zeit, an der er abgestillt war, und wir wussten: Wir müssen ihn nach Rutan bringen. Wir packten den goldenen Jungen in ein warmes Tuch, legten ihn in einen Korb und machten uns auf den Weg. Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht waren wir unterwegs. Wie oft wollten wir umkehren! Schliesslich gelangten wir an die Grenze zu Rutan, an den äussersten Weg. Doch da, an diesem Weg, kurz bevor wir das Kind hinlegten und wieder in die Stadt zurückkehrten, da spielten wir ein Spiel, indem ich zu meiner Frau sagte und auf meinen Sohn schaute: “Ich schreibe in den Himmel. Und Du sagst mir, was es heisst!”
“Ich liebe Dich!”

 

 
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