|  | Es war
    einmal ein reicher Graf, der reiste um sein Leben gerne in der Welt umher. Dabei mußte
    ihn stets sein Lieblingsdiener begleiten, der ihm schon sieben Jahre treu und fleißig
    Dienste tat, und den er darum auch von Herzen gern hatte. Einmal aber, als sie wieder fern
    der Heimat auf Abenteuer aus waren, ließ sich der Diener ein Versehen zuschulden kommen.
    Darüber geriet der Graf in einen solchen Zorn, daß er den Burschen nicht mehr sehen
    konnte. Er schickte ihn heim und gab ihm einen Brief an seine Frau mit. Darin stand, sie
    solle den Diener, sobald er auf der Burg eintreffe, in den Turm sperren und ihm den Kopf
    abschlagen lassen. Obwohl der Bursche nicht wußte, was in dem Briefe stand, war ihm doch
    sehr traurig zumute, weil der Graf plötzlich so böse und ungnädig zu ihm war und ihn
    nun allein nach Hause schickte. Dies aber dachte er auch bei sich: daß in dem Brief wohl
    auch nicht viel Gutes stehen werde. Als er nur noch eine Tagereise vom Schloß des Grafen entfernt war, blieb er in einem
    Wirtshaus über Nacht. Weil er nun nach dem Abendessen so schweig- sam und
    niedergeschlagen dasaß, fragte ihn der Wirt, ob er denn auf einer unlieben Reise
    unterwegs sei, oder was sonst ihn bedrücke. Da erzählte er ihm die ganze Geschichte, wie
    sie sich zugetragen, und zeigte ihm auch den Brief des Grafen. Der Wirt aber war ein
    pfiffiger Mann und. sagte: "Wenn ich in deinen Schuhen stecken würde: ich gäbe den
    Brief nicht ab, bevor ich nicht wüßte, was darin steht." Der Bursche, der immer ein
    treuer Diener gewesen war, wollte anfangs nichts davon hören; zuletzt aber brachte ihn
    der Wirt doch so weit, daß er alle Bedenken vergaß, den Brief aufbrach und las.
    Todesblaß ließ er ihn aus der zitternden Hand auf den Tisch fallen. Da nahm ihn der Wirt
    und las ihn Wort für Wort. "Hab' ich doch gleich richtig geahnt!" sagte er.
    "Einen Kopf kürzer will er dich also machen lassen? Wär doch bigott schade um dich!
    Sei nur ohne Sorge. Hat der Graf so Übles gegen dich im Sinn, so wollen wir ihm auch
    einen Streich spielen! Laß du jetzt nur mich machen." Darauf holte er Federkiel,
    Tinte und Papier, ahmte die Handschrift des Grafen aufs Tüpfelchen genau nach und schneb
    an die Gräfin, sie solle den treuen Diener am selben Tage noch, an dem er den Brief
    abgebe, mit ihrer Tochter verheiraten. Dem Diener schien dieser Plan zwar gefährlich;
    doch da ihm sein Herr nun schon einmal nach dem Leben trachtete, wollte er ihm auch erst
    einen rechten Anlaß dazu geben. Wenn es aber gelang, warum sollte er sich dann nicht mit
    der schönen jungen Gräfin verheiraten? Je mehr er an sie dachte, desto vergnügter wurde
    er, und am andern Morgen konnte er nicht früh genug aufbrechen, um zu ihr zu kommen.
      Die Gräfin las den Brief und tat sogleich, wie ihr Mann befohlen hatte; denn sie
    wußte, er war ein strenger Herr und konnte keine Widerrede leiden. Andernfalls hätte sie
    ihm schon einen ernsten Vorhalt gemacht, daß er doch nicht ihre einzige Tochter einem
    Diener zur Frau geben dürfe. Die junge Gräfin aber, die den Burschen schon immer gern
    gemocht hatte, war mit ihres Vaters Wunsch wohl zufrieden und wurde also noch am gleichen
    Tage des Dieners Frau.  Nach einiger Zeit kam der Graf zurück und erfuhr, was seine
    Frau angerichtet hatte. Vor Ärger und Zorn hätte er sich am liebsten alle Haare
    ausgerissen und sein Weib aus dem Hause gejagt oder in den Turm geworfen. Doch die
    Schrift, die er da in Händen hielt, war so genau nachgeahmt, daß er gestehen mußte:
    "Fürwahr, die Buchstaben sind so ähnlich, daß sogar ich selber den Brief für echt
    hätte halten können!" Darum war er milde gegen seine Frau. Auf den Diener aber, der
    nun sein Schwiegersohn war, warf er von Stund an einen noch viel größeren Haß und
    suchte ihn auf irgendeine andere Art aus dem Weg zu räumen. Vor den Leuten und besonders
    vor seiner Tochter, die sich sehr glücklich fühlte, tat er zwar, als ob er mit der
    Heirat einverstanden sei; zu seinem Schwiegersohn aber sagte er: "Ich will mit eurer
    Ehe einverstanden sein, wenn du mir nachträglich noch eine Feder aus dem Schwanz des
    Vogels Greif verschaffst." - "Und für mich", sagte die Gräfin,
    "frage den Vogel Greif, wo mein Trauring geblieben sei; ich finde ihn nicht
    mehr." Das wolle er gerne tun, antwortete der Schwiegersohn, nahm Abschied von seiner
    jungen Frau und machte sich auf den Weg. Der Graf sah ihm vom Turmfenster aus nach und
    freute sich schon im stillen; denn er dachte nicht anders, als der Vogel Greif werde
    seinen Schwiegersohn zerreißen und auffressen.  Der war nun schon eine gute
    Wegstrecke gewandert und kam eines Tages auch durch ein Dorf. Die Leute fragten, wohin er
    wolle, und als er es ihnen sagte, baten sie ihn: "Oh, frage doch auch den Vogel
    Greif, warum unser Dorfbrunnen gar nicht mehr läuft." - "Das will ich ihn gerne
    fragen", sagte er und ging weiter. Nachdem er wieder eine weite, weite Strecke
    gewandert war, kam er an einen breiten Fluß. Über den führte keine Brücke; am Ufer
    aber stand ein Mann, der mußte seit undenklichen Zeiten jeden, der des Weges kam,
    hinübertragen. Er nahm auch sogleich den Burschen auf die Schulter, trug ihn über den
    Fluß und fragte ihn dann, wohin er reise. "Zum Vogel Greif!" antwortete er.
    "Oh, so vergiß doch auch nicht zu fragen, wie lange ich noch hier die Menschen ans
    andere Ufer tragen muß, und wann ich endlich abgelöst werde." - "Ich will
    nicht vergessen zu fragen", sagte er und ging weiter.
 Unser Wandersmann war schon durch mancher Herren Länder gezogen, als er endlich an eine
    Hütte kam, in dem ein uraltes Mütterchen wohnte. Das fragte er, ob hier nicht der Vogel
    Greif wohne. "Ja, der wohnt hier", sagte es. "Er ist aber ausgeflogen, und
    das ist dein Glück, denn sonst würde er dich gleich in Stücke reißen und auffressen.
    Darum mach nur, daß du so schnell wie möglich wieder von hier fortkommst!" Der
    Bursche ließ sich aber nicht so rasch einschüchtern und erzählte, was er den Vogel
    Greif alles fragen müsse; berichtete auch, daß der Graf eine von den schönen
    Schwanzfedern haben wolle und er also nicht unverrichteter Dinge von hier fortgehen
    dürfe. Da versprach das Mütterchen, ihm beizustehen und ihm zu helfen, versteckte ihn
    unter dem Bett und sagte: "So, nun rühr dicht nicht und halte die Ohren steif!"
      Bald darauf kam der Vogel Greif nach Hause. Kaum hatte er das Zimmer betreten, so
    rief er: "Ich wittere Menschenfleisch! Belüg mich nicht!" - "Nur
    gemach!" sagte das Mütterchen. "Es ist freilich ein Mensch hier gewesen; der
    hätte allerlei zu fragen gehabt, was du ihm aber doch nicht hättest beantworten
    können." - "Haha! Das wäre!" sagte der Vogel Greif. "Was wollte er
    denn wissen?" - "Ach", antwortete das Mütterchen, "eine Frau Gräfin
    läßt dich fragen, wo ihr Brautring geblieben sei. Sie kann ihn um alle Welt nicht finden
    und meint, du wüßtest es." - "Da hat sie recht", sagte der Vogel Greif;
    "ich weiß es auch. Die dumme Frau dürfte nur die Türschwelle aufbrechen lassen, so
    würde sie den Ring finden! Was hat er sonst noch wissen wollen?" - "Ja: warum
    der Dorfbrunnen schon so lange nicht mehr laufe? Aber wie sollst denn d u das
    wissen?" - "Freilich weiß ich's!" sagte der Vogel Greif, "die
    einfältigen Leute dürften nur den Frosch fangen, der die Quelle verstopft, dann würde
    der Brunnen gleich wieder laufen." - "Was du nicht alles weißt!" sagte
    erstaunt das Mütter- chen. "Aber d a s hättest du ihm doch gewiß nicht sagen
    können, warum der Mann beständig die Leute übers Wasser tragen muß, und wann ihn
    endlich einmal einer ablösen wird?" - "Oh, der Narr!" sagte der Vogel
    Greif. "Er soll doch den ersten besten, den er hinübertragen muß, ins Wasser werfen
    und sagen: ,Jetzt nimm du meinen Platz ein !" so ist er frei. Hat es weiter nichts
    gewollt, das Erdenwürmchen?" - "O doch'", sagte das Mütterchen, ,;der
    Bursche wollte für den Grafen etwas von dir geschenkt haben; aber das war gar zu dumm,
    ich mag's nicht einmal sagen." - "Sag's nur!" rief der Vogel Greif;
    "ich möchte alles wissen." - "Gibst du mir's, wenn ich es dir sage?"
    fragte das Mütterchen. "Ei, warum nicht? Heraus mit der Sprache!" "Denk
    dir nur, er wollte eine von deinen Schwanzfedern!" sagte das Mütterchen. Da machte
    der Vogel Greif zwar ein grimmiges Gesicht; weil er's aber versprochen hatte, so riß er
    sich eine Feder aus und gab sie dem Mütterchen. Darauf legte er sich nieder und schlief
    ein.  Am andern Morgen, sobald der Vogel Greif ausgeflogen war, holte das alte
    Mütterchen den Burschen unter dem Bett hervor und fragte ihn, ob er alles vrstanden, was
    der Vogl Greif ihr verraten habe? "Natürlich, liebes Mütterchen!" sagte er.
    "Kein Wort ist mir entgangen!" - "Dann ist's ja gut", sagte das
    Mütterchen und gab ihm zum Abschied die Feder, die sich der Vogel Greif usgerupft hatte.
    Da bedankte sich der Bursche vielmals und trat vergnügt die Rückreise an.  Als er
    an den Fluß kam, fragte ihn der Mann, was der Vogel Greif gesagt habe. "Trag mich
    nur erst hinüber", antwortete der Bursche, "dann will ich dir's sagen."
    Als er am andern Ufer stand, sagte er: "Den nächsten, den du tragen mußt, den wirf
    ins Wasser und sprich: ,Jetzt nimm du meinen Platz ein!', dann bist du frei und für alle
    Zeiten abgelöst." - "Das hätte ich eher wissen sollen", brummte der Alte
    und tappte wieder durch das Wasser zurück. Der Bursche aber ging tapfer weiter und kam
    bald in das Doff, wo die Bauern schon auf ihn warteten. Er verriet ihnen,was er vom Vogel
    Greif erfahren und siehe, als sie den Frosch aus dem Brunnen geholt hatten, prudelte das
    Wasser wieder so reichlich wie vordem. Da waren die Leute froh und schenkten ihm
    dreihundert Gulden für seine Mühe. Nach vielen Wochen kam er endlich wieder auf der Burg
    an. "Wo ist mein Trauring?" fragte die Gräfin, die ihm voll Erwartung bis zum
    Tor entgegengegangen war. "Unter der Schwelle hier", gab er zur Antwort. Da
    mußte sogleich ein Zimmermann kommen und die Schwelle aufbrechen; und wahrhaftig - da lag
    der Ring. Zum Grafen aber sagte der Bursche: "Der Vogel Greif läßt Euch freundlich
    grüßen und schickt Euch da eine seiner goldenen Federn. Kämet Ihr selbst aber einmal zu
    ihm, so wolle er Euch so viele Schätze schenken, daß kein zweiter mehr auf Erden sein
    solle, der reicher sei als Ihr. " Als der Graf diese Kunde vernommen hatte, wollte er
    mit seinem Besuch beim Vogel Greif keine einzige Stunde verlieren und trat sogleich die
    Reise an.  Er kam glücklich bis an das Wasser, über das keine Brücke führte, und
    der Mann am Ufer fragte ihn, ob er ihn hin übertragen solle. "Ja, das ist mir
    recht", sagte der Graf "ich habe es eilig, enn ich gehe meinem Glück entgegen,
    mußt du wissen! Wenn ich wiederkomme, wirst du mich nicht mehr zu tragen brauchen!"
    - "Das will ich glauben!" sagte der Mann, nahm den Grafen auf den Rücken, trug
    ihn bis in die Mitte und - plumps! warf er ihn ins Wasser und sagte: "Jetzt nimm du
    meinen Platz ein!" Dann machte er, daß er fortkam. Da mußte der Graf nun dableiben
    und die Leute durch den Fluß tragen; und wenn ihn keiner abgelöst hat, so tut er's heute
    noch.
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