Daniel Ambühl  Bildweg  Braunschweig  Dokumente

 

Vom Genie der Neuigkeiten und vom Doofen, der alles vergisst
 

 

Es war einmal ein Volk, in welchem ein Mann lebte, der ohne Unterbruch vollkommen neue Dinge erfand und hervorbrachte. Jeden Tag überraschte er das Volk von neuem mit ganz neuen Dingen. Jeden Tag war das Volk erneut neugierig, was der Mann wieder Neues hervorbrächte und der Mann galt dem Volk deshalb als Genie und war berühmt.

Eines Tages gelangte aus der Ferne ein Reisender in dieses Land; zu diesem Volk; und man führte ihn natürlich sofort zum Genie der Neuigkeiten. Als der Reisende mit der Volksschar vor der Hütte des Genies ankam, hockte dieser am Boden und knetete aus  einem Lehmklumpen ein Gefäss. „Was ist das?“ fragte ihn erhrfurchtsvoll die Volksmenge. Das Genie antwortete: „Es ist ein Topf.“ Sogleich klatschte das Volk begeistert in die Hände, fiel vor dem Genie auf den Boden. „Sehen Sie,“ wandten sich die Umstehenden zum Reisenden: „Das ist völlig neu! Das Genie hat etwas ganz Neues gemacht, etwas, das Topf heisst!“ „Heil Dir, Schöpfer des Neuen“, rief das Volk und tanzte vor Freude.

Als der Reisende am nächsten Morgen auf der Strasse spazierte, fragte ihn das Volk, wer er sei und er antwortete, er sei der Reisende, der gestern angekommen sei. Das Volk war sehr verwundert und sprach zu ihm: „Nun werden wir Ihnen einmal etwas ganz Neues zeigen“. Es wurde ein Zug gebildet und der Reisende ging mit. Wieder kam man beim Genie der Neuigkeiten an, wieder hockte dieser Mann am Boden und knetete aus einem Klumpen Lehm ein Gefäss, wieder erklärte er, das sei ein Topf, das Volk fiel erneut in Trance und rief: „Ein Topf! Er hat den Topf erfunden! Heil Dir Schöpfer des Neuen!“ Nun war der Reisende verwundert und als man ihn fragte, weshalb er nicht mitjuble, antwortete er: „Er hat doch gestern einen Topf gemacht!“ Das Volk aber lachte nur und fragte: „Gestern?“ So entstand die Kunst der Neuzeit: aus Vergesslichkeit.

Ein anderes Beispiel: Kürzlich las ich in einer Postille, ein ultramoderner Künstler hätte jeden Tag seine Exkremente in Plastikfolie eingeschweisst und diese „Kunstsammlung“ in einem Museum für Gegenwartskunst ausstellen dürfen. Nun aber verklagte dieses Genie den ehrwürdigen Musentempel auf eine Viertelmillion Mark Schadenersatz, weil beim Einrichten der Kunstschau einer der Scheissbeutel geplatzt war und sei Inhalt verloren ging. Kunst ist eben Geschmacksache.
Erinnern Sie sich noch an Joseph Beuys mit seinen „Fettecken“? Oder Marcel Duchamps, der einen Flaschentrockner zum Kunstwerk erklärte? Durchbrüche in der Kunstgeschichte sollen das gewesen sein? Etwas ganz Neues? Wer hat in Frankfurt reiche Händler um ein Vermögen betrogen, indem er ihnen kleine Kotkügelchen als „Prophetenbeeren“ verkaufte? Eulenspiegel! In Historie 35.
Und wer hat dem Landgrafen von Hessen für eine Unsumme ein riesiges Gemälde über die Herkunft seiner Familie verkauft; eine leere, weisse Leinwand wohlgemerkt? Eulenspiegel! In Historie 27. Der Graf und sein Gesinde wollten nicht zugeben, dass auf dem weissen Tableau nichts drauf war, denn ich hatte zuvor erklärt: „Wer das Gemälde beschaut und nicht ehelich geboren ist, der kann mein Gemälde nicht sehen.“ Andächtig standen die hohen Herren vor dem leeren Tuch und schwärmten, was sie da alles sähen!

Die Vergesslichkeit zeichnet den Doofen aus, weil er meint, alles, was er erlebe, sei völlig neu. Das Gefühl des wundervollen Fortschritts, das den Dummen begeistert, war schon immer nur eine Folge rasanten Gedächtnischwundes.

In der Neuzeit, in der Sie jetzt leben, und in der alles immer so wahnsinig neu ist, da fehlt es an Erinnerung. Diese Vergesslichkeit hat System: Die Erinnerung bedroht nämlich die Begeisterung für das Neue. Die Erinnerung bedroht den Fortschritt!

Glauben Sie bloss nicht, dass man überall Denkmäler aufstellt, damit man nicht vergisst, was einmal war. Im Gegenteil: Man stellt diese Denkmäler auf, damit man endlich vergessen kann, was einmal war und man sich wieder dem Besöffnis der News widmen kann. Man lagert all seine Daten und Erinnerungen so hektisch auf Computer und Photos aus, damit man nicht mehr an sie denken muss. Für viele ist deshalb ein Geschehen heute nur noch eine Neuigkeit, die zur Zerstreuung dient. Und für viele ist deshalb heute der Holocaust nur ein Denkmal, das so heisst. Angesichts dieser Lage ist es deshalb ganz klug, wenn diese Holocaust-Denkmäler schrecklich und grauenhaft aussehen, damit die Besucher auf die Frage „Und? Wie hat ihnen der Holocaust gefallen?“ nicht plötzlich antworten: „Ganz hübsch. Interessant. Mal was Neues.“

Dieser Text von Daniel Ambühl erschien als Kolumne während des Bildwegs in der "neuen braunschweiger"

 
 


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