Daniel Ambühl  Bildweg  Braunschweig  Dokumente

 

Vom Segen des Analphabetismus
 

 

Analph.jif (2355 Byte)
Der Beweis: Vorlesungsnotiz eines Doktoranden zum Zyklus "Philosophie der Neuzeit", 
1998, Kugelschreiber auf Ökopapier, 12,2 * 5, 31 cm. 
Courtesy: Museum of modern art, New York.

 

Zu meiner Zeit, im 14. Jahrhundert, hatte man noch geglaubt, mit Hilfe von Wissenschaft und Bildung des gemeinen Volkes könnten alle Probleme schnell und endgültig gelöst werden. Es entstanden überall Universitäten, der Buchdruck wurde erfunden und Schriften, die zuvor in Klöstern wie in unzugänglichen Tresoren lagerten, über die ganze Welt verbreitet. Otto Normalverbraucher lernte Lesen und Schreiben. Und?

Heute leben in den USA 30 Millionen sogenannte sekundäre Analphabeten, Menschen, die in der Schule Lesen und Schreiben gelernt haben, es aber wieder vergessen und verlernt haben und sozusagen in ihre Prähistorie, in ihre Steinzeit, in ihr embryonales Barney Geröllheimer-Stadium zurückgefallen sind. Eine Studie in der US-Army hat gezeigt, dass 40 % der jüngsten Soldatengeneration die Gebrauchsanweisungen der Kanonen, die sie bedienen, nicht mehr lesen, geschweige denn verstehen können. Man ist deshalb dazu übergegangen, diese Anleitungen als Comics abzufassen. Die Tendenz in der Bundesrepublik zeigt glücklicherweise in dieselbe Richtung. Seit Elvis bei uns war, haben wir den Ehrgeiz entwickelt, den Amerikaner in seiner Kunst überrunden zu wollen, den kürzesten Weg von der Barbarei zur Dekadenz zu finden, ohne Umweg über die Kultur.

Ein paar Leute behaupten allerdings, diese Tendenz sei beängstigend und bedenklich. Weshalb aber beängstigend? Vielleicht hat man nur die Parole "Zurück zur Natur!" etwas zu wörtlich genommen. Oder vielleicht war bloss der Versuch, aus dem vollen Galopp der fortschrittlichen, westlichen Hochkultur in die ökologische Jäger- und Sammlerbewegung heimzukehren, etwas gar abrupt? Nein! Der freiwillige Rückschritt zum fröhlichen Höhlenbewohnerdasein ist ganz konsequent, logisch und pragmatisch? Wurden je Kriege gewonnen, weil die Soldaten Lesen und Schreiben konnten? Eben!

Für mich persönlich gibt es allerdings andere Gründe, weshalb ich mich demnächst auch einem Re-Analphabetisierungsprogramm der Regierung anschliessen werde. Ich wünsche mir nämlich schon seit langem, ich könnte all den Unsinn nicht lesen, der mich heute auf Schritt und Tritt verfolgt. Man kann sich in der zivilisierten Öffentlichkeit kaum mehr bewegen, ohne dass man ringsum von dummen Sprüchen angepöbelt wird, die erst noch zu erreichen scheinen, was sie wollen, nämlich dass man sich aufregt und erregt. Die Welt ist aufgegeilt mit diesem Sprachplunder. Grosse dumme Buchstaben werden wie Holzscheite den Passanten zwischen die Beine geworfen und in die Speichen ihrer Fahrräder geschmissen. Man stolpert nur noch durch diese Welt, von Panne zu Panne, ist nicht mehr fähig einen ganzen Gedanken zuende zu denken, ohne dass einen wieder ein solches Holzscheit zu Fall bringt. Man wird geprügelt von diesen Schlagwörtern. Wie soll man sich dagegen wehren? Mit Analphabetismus!
Wozu sollen wir den armen Analphabeten in den Entwicklungsländern das Lesen und Schreiben beibringen? Nur damit sie schneller und besser auf die Reklamen der Pharma-, Milchpulverkonzerne und auf die Propaganda korrupter und machtgeiler Diktatoren hereinfallen? Lassen wir die Analphabeten also wie sie sind. Wie aber sollen wir denen helfen, die dummerweise schon Lesen und Schreiben können? Seien sie beruhigt! Die Universtäten kämpfen heute zuvorderst mit bei der Re-Analphabetisierung ihrer Klientel, und der Bildungszerfall der hiesigen Mittelschul- und Universitätsabgänger ist erfolgversprechend. Es zeigt sich bereits eine hübsche Spielform des Analphabetismus, nämlich diejenige, dass der Akademiker zwar den Jargon einer immer engeren Spezialfachrichtung technisch brilliant und ganz zweckmässig beherrschen und anwenden kann, hingegen unfähig ist, fachübergreifend, sprich: in allgemeinen Begriffen zu kommunizieren. Die Sprache, die da verwendet wird, steht ausserhalb jedes bewussten Zusammenhangs mit dem Leben des Sprechenden; sie ist unpersönlich geworden. Man spricht und liest und schreibt, ohne zu Denken. Sollte es einmal "Bumm!" macht, können wir nun ruhig und gelassen neben der Kanone stehen und mit Recht sagen "Ich soll geschossen haben? Wie kommen sie darauf? Ich weiss doch gar nicht, was das ist!"

Dieser Text von Daniel Ambühl erschien als Kolumne während des Bildwegs in der "neuen braunschweiger"

 
 


Copyright: Steintisch Verlag Zürich 1998