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Der Beweis: Vorlesungsnotiz eines Doktoranden
zum Zyklus "Philosophie der Neuzeit",
1998, Kugelschreiber auf Ökopapier, 12,2
* 5, 31 cm.
Courtesy: Museum of modern art, New York.
Zu meiner Zeit, im 14. Jahrhundert, hatte man noch geglaubt,
mit Hilfe von Wissenschaft und Bildung des gemeinen Volkes
könnten alle Probleme
schnell und endgültig gelöst werden. Es entstanden überall Universitäten, der
Buchdruck wurde erfunden und Schriften, die zuvor in Klöstern wie in unzugänglichen
Tresoren lagerten, über die ganze Welt verbreitet. Otto Normalverbraucher lernte Lesen
und Schreiben. Und?
Heute leben in den USA 30 Millionen sogenannte sekundäre
Analphabeten, Menschen, die in der Schule Lesen und Schreiben gelernt haben, es aber
wieder vergessen und verlernt haben und sozusagen in ihre Prähistorie, in ihre Steinzeit,
in ihr embryonales Barney Geröllheimer-Stadium zurückgefallen sind. Eine Studie in der
US-Army hat gezeigt, dass 40 % der jüngsten Soldatengeneration die Gebrauchsanweisungen
der Kanonen, die sie bedienen, nicht mehr lesen, geschweige denn verstehen können. Man
ist deshalb dazu übergegangen, diese Anleitungen als Comics abzufassen. Die Tendenz in
der Bundesrepublik zeigt glücklicherweise in dieselbe Richtung. Seit Elvis bei uns war,
haben wir den Ehrgeiz entwickelt, den Amerikaner in seiner Kunst überrunden zu wollen,
den kürzesten Weg von der Barbarei zur Dekadenz zu finden, ohne Umweg über die Kultur.
Ein paar Leute behaupten allerdings, diese Tendenz sei
beängstigend und bedenklich. Weshalb aber beängstigend? Vielleicht hat man nur die
Parole "Zurück zur Natur!" etwas zu wörtlich genommen. Oder vielleicht war
bloss der Versuch, aus dem vollen Galopp der fortschrittlichen, westlichen Hochkultur in
die ökologische Jäger- und Sammlerbewegung heimzukehren, etwas gar abrupt? Nein! Der
freiwillige Rückschritt zum fröhlichen Höhlenbewohnerdasein ist ganz konsequent,
logisch und pragmatisch? Wurden je Kriege gewonnen, weil die Soldaten Lesen und Schreiben
konnten? Eben!
Für mich persönlich gibt es allerdings andere Gründe,
weshalb ich mich demnächst auch einem Re-Analphabetisierungsprogramm der Regierung
anschliessen werde. Ich wünsche mir nämlich schon seit langem, ich könnte all den
Unsinn nicht lesen, der mich heute auf Schritt und Tritt verfolgt. Man kann sich in der
zivilisierten Öffentlichkeit kaum mehr bewegen, ohne dass man ringsum von dummen
Sprüchen angepöbelt wird, die erst noch zu erreichen scheinen, was sie wollen, nämlich
dass man sich aufregt und erregt. Die Welt ist aufgegeilt mit diesem Sprachplunder. Grosse
dumme Buchstaben werden wie Holzscheite den Passanten zwischen die Beine geworfen und in
die Speichen ihrer Fahrräder geschmissen. Man stolpert nur noch durch diese Welt, von
Panne zu Panne, ist nicht mehr fähig einen ganzen Gedanken zuende zu denken, ohne dass
einen wieder ein solches Holzscheit zu Fall bringt. Man wird geprügelt von diesen
Schlagwörtern. Wie soll man sich dagegen wehren? Mit Analphabetismus!
Wozu sollen wir den armen Analphabeten in den Entwicklungsländern das Lesen und Schreiben
beibringen? Nur damit sie schneller und besser auf die Reklamen der Pharma-,
Milchpulverkonzerne und auf die Propaganda korrupter und machtgeiler Diktatoren
hereinfallen? Lassen wir die Analphabeten also wie sie sind. Wie aber sollen wir denen
helfen, die dummerweise schon Lesen und Schreiben können? Seien sie beruhigt! Die
Universtäten kämpfen heute zuvorderst mit bei der Re-Analphabetisierung ihrer Klientel,
und der Bildungszerfall der hiesigen Mittelschul- und Universitätsabgänger ist
erfolgversprechend. Es zeigt sich bereits eine hübsche Spielform des Analphabetismus,
nämlich diejenige, dass der Akademiker zwar den Jargon einer immer engeren
Spezialfachrichtung technisch brilliant und ganz zweckmässig beherrschen und anwenden
kann, hingegen unfähig ist, fachübergreifend, sprich: in allgemeinen Begriffen zu
kommunizieren. Die Sprache, die da verwendet wird, steht ausserhalb jedes bewussten
Zusammenhangs mit dem Leben des Sprechenden; sie ist unpersönlich geworden. Man spricht
und liest und schreibt, ohne zu Denken. Sollte es einmal "Bumm!" macht, können
wir nun ruhig und gelassen neben der Kanone stehen und mit Recht sagen "Ich soll
geschossen haben? Wie kommen sie darauf? Ich weiss doch gar nicht, was das ist!"
Dieser Text von Daniel
Ambühl erschien als Kolumne während des Bildwegs in der "neuen
braunschweiger"
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