Daniel Ambühl  Bildweg  Braunschweig  Dokumente

 

Niemand  oder Knerr und Hecht
  Essay von Thomas Primas

Till Eulenspiegel ist, wie man im englischen Sprachgebrauch sagen würde, ein Outlaw. Er steht ausserhalb des Gesetzes einer allgemeinen gesellschaftlichen Übereinkunft, die regeln soll, was man tut und was man sagt. Aber was tut und sagt man denn so?

Je nach Zeitgeist spielt dieses "man" einen anderen Ton und zeigt eine andere Färbung. Es spielt und zeigt, bis der Ton gröber wird, zum Lärm und Geschwätz verkommt, und die Farbe verschmiert und verblasst. Der Zeitgeist wandelt und bewegt sich, bringt Gültigkeiten aus seinen Urgründen hervor und versenkt seine alten darin. Auch wenn früher die Gültigkeiten und Moden ein wenig länger gültig und modisch blieben als heute - der Zeitgeist war und ist ein untreuer Geselle.

Nun gibt es die Traditionen, die grosse Kirche, die ehrwürdigen antiken Philosophen und Künstler, die Staaten, Systeme und Techniken, die sich halten können. Die Traditionen trotzen dem Zeitgeist, der wie ein Wind über die Erde fegt und so manches wegbläst, um Raum zu schaffen für ein neues "man". Sie trotzen den kurzfristigen manischen Moden, um ihren eigenen modus vivendi, ihre eigene Lebens- und Denkweise, am Leben zu erhalten. Und doch ist ihr modus vivendi ebenfalls ein "man", sie tradieren ein "man", von dem sie meinen, es habe eine Bedeutung über die Zeit hinweg. Sie trotzen "manhaft" ihrem Verblasen in der Zeit, weil sie denken, ihrem "man" hafte etwas Zeitloses an.

Angeschlagen zwar, aber doch leidlich erfolgreich haben die Traditionen so manches von ihrem modus vivendi durch die Moderne gebracht. Durch die Moderne, die eigentlich mit den Traditionen abrechnen und ihre eigenen, neuen Modi installieren wollte.

Seien wir grosszügig und lassen wir die Moderne im Untergang des Mittelalters, also im 15. Jahrhundert entstehen. Die grosse Pest des 14. Jahrhunderts scheint die Brunnen des Glaubens vergiftet zu haben, die das alte "man" genährt hatten, und ein neuer modus vivendi musste her. So schnell fand man diesen aber nicht, und so suchte man verzweifelt beim vorletzten grossen "man", in der Antike bei den Römern und den Griechen, ob deren Brunnen die Pest der Wertevernichtung wohl überstanden hätten. Den Traditionen, der Kirche und dem Staat, dünkte die verkündete Wiedergeburt, die Renaissance, eine äusserst unerwünschte Vorstellung, denn durch sie würden sie ihren Status als alte, weise Männer aufgeben müssen und wieder als kleine Kinder von neuem beginnen, ihren Ort in der Welt zu finden. Ja, und sie trotzten wie kleine Kinder, deren sicheres Selbstverständnis durch den Untergang eines alten "man" durcheinandergebracht wurde und die nun ein neues suchten, ohne das alte wirklich loslassen zu können. Wir hören Luther in die Kirche hineinschreien: "Hier steh ich nun und kann nicht anders", und Kolumbus rief in die verblüffte Welt hinaus: "Hier geh ich nun und kann nicht anders."

Aber weder die ersten wiedergetauften Griechen noch Luther oder Kolumbus haben den neuen modus vivendi gefunden. Sie öffneten Türen; das neue Land der Moderne fanden andere: Giordano Bruno, Galilei, Descartes. Den modus vivendi der Moderne nannte man Wissenschaft, und er bekam später noch manchen Zunamen: Vernunft, Technik, Nihilismus, Infotainment. Sie sind zum Mass unseres Lebens geworden.

Der Modus ist die Art und Weise, wie etwas ist oder geschieht und die Art und Weise, wie wir etwas tun. Der modus vivendi ist nichts anderes, als die Art und Weise, wie wir leben wollen, wie wir unser Leben gestalten möchten. Die Moderne hat sich den richtigen Namen gegeben, denn sie suchte einen neuen modus vivendi. Und sie sucht ihn noch immer, denn die Moderne fand einen seltsamen modus vivendi; sie fand den modus vivendi des Suchens.

Das "man" der Moderne ist also ein "man", das sucht. Was sucht es aber, dieses moderne "man"? Mir scheint es, dass es den Menschen sucht; es sucht ihn überall im Äusseren, im "man", im Jedermannsland, und findet immer wieder dies und jenes, doch nicht den Menschen. Es könnte also sein, dass der Mensch in einem anderen Land, in einem diesem Jedermannsland entgegengesetzten Ort lebt, im Niemandsland.

In der Gestalt Till Eulenspiegels drückt sich dieser Bereich im Menschen, wo er Niemand ist, aus. Till Eulenspiegel grenzt sich ab von diesem "man", indem er es nicht ernst nimmt, seine Übereinkünfte nicht anerkennt und lächerlich macht. Er ist ein Narr, nicht weil er närrische Dinge spricht, sondern weil er dem Nutzen, den eine Anpassung an die Übereinkünfte des "man" mit sich bringt, den Rücken kehrt. Er ist ein Narr, weil er durch sein Verhalten seine Umgebung herausfordert, ihn aus ihrer Mitte zu werfen. Die Mitte des "man" ist die jeweilige Übereinkunft, der jeweilige modus vivendi, den es zu akzeptieren gilt. Und das "man" wirft den Narr hinaus, wirft ihn aber nach dorthin, wo er eigentlich hingehört: ins Niemandsland.

Till Eulenspiegel steht als Gestalt geschichtlich am Anfang einer Bewegung, die eine stetig sich steigernde Individualität hervorbringen wird, ein Selbstbewusstsein von nie gekannten Dimensionen. In der Moderne hat sich die Spannung zwischen dem Niemandsland und dem Jedermannsland stetig verschärft, Auch Till Eulenspiegel konnte das Niemandsland, dessen "Bürger" er war, nicht als Ort kenntlich machen. Auch er begab sich – mehr als Missionar denn als Diplomat - in das Jedermannsland. Was bleibt von diesem Empfinden des Niemandslandes, ist die Provokation. Am Ende dieser Bewegung der Individualisierung steht ein andersartiger Till Eulenspiegel, ein anderer Provokateur: Marquis de Sade. Während Till Eulenspiegels Provokationen noch etwas ganz und gar Geschlechtsloses, Unpubertiertes hatten, finden wir bei de Sade schon pubertierende Bilder eines Einzigartigseins des Menschen; den Menschen aber, den finden wir auch dort nicht. Zu allgemein, zu sexuell sind die Assoziationen, die mit diesem verborgenen Bereich des Niemandslandes, in dem keine Regeln und Grenzen gelten, verbunden werden. Das Geheimnis, das mit den Vorstellungen des "man" nicht zu fassen ist, wird gerade in der – sowohl eulenspiegelschen wie auch de Sade'schen – Tabulosigkeit tabuisiert, ausgegrenzt.

Till Eulenspiegel und der Marquis de Sade erzählen die Geschichte des Gültigseins als Niemand, als Geheimnis. Sie schreien diese Geschichte in ihre Welt hinein, und vielleicht wäre es nun an der Zeit, mit dem Schreien aufzuhören, leiser zu werden, so dass die Geschichte vom Gültigsein gehört werden könnte.

Es ist fast, als wollten wir uns das Finden des Menschen nicht gönnen. Wie vor 600 Jahren können wir uns vom alten modus vivendi nicht lossagen, das uns das grosse Abenteuer des radikalen Suchens möglich machte. Die Moderne, der modus vivendi des Suchens, geht aber seinem Ende entgegen, ist vielleicht schon zu Ende, ohne dass wir es richtig gemerkt haben. Wir sehnen uns bereits nach einem Finden, und wir könnten uns nun ein Finden, eine Antwort eigentlich auch gönnen.

Vielleicht finden wir in dieser Antwort eine neue Frage, eine Frage nach dem Ort des Menschen. Nicht die Frage "Wer bin ich?" oder, noch unpersönlicher: "Was bin ich?" findet den Menschen; man müsste doch dann mit diesem und jenem antworten und könnte nie den Menschen fassen. Dem Menschen aber ist ein Ort gegönnt, ein Heim. Die Frage nach seinem Ort, seinem intimen Ort, wo er Niemand ist, niemand zu sein hat und niemand ih beurteilt und analysiert, trägt eine Antwort mit sich, deren Stimme zwar nur im Schweigen, in der Stille, gehört werden kann, doch deren Stimmung in die Welt, ins Jedermannsland mitgeht und den modus vivendi verwandelt.

Als der Versuch einer Antwort erzählte Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der grosse Philosoph, eine Geschichte über den Niemand und den Jedermann. Er nennt sie die Geschichte vom Herr und vom Knecht.

Der Herr und der Knecht sind zwei Bereiche im Menschen. Der Herr ist dasjenige im Menschen, das sich als ewiges Selbst weiss. Deshalb will es sich von keinem Ding, von nichts ausserhalb von sich selbst bestimmen lassen. Es ist der Niemand, der sich von nichts ausserhalb von ihm selbst zu etwas machen lässt. Im Grunde ist es das verborgene, unvermittelbare Geheimnis.

Der Knecht ist das Weltbewusstsein. Er ist gefangen von den Dingen und ist sich bewusst, dass er abhängig ist von der Welt, von ihren Bedingungen und ihrem modus vivendi. Durch seine Zugehörigkeit zu dieser Welt steht er in Beziehung mit ihr. Er weiss um die Dinge in dem Sinne, dass Jedermann um diese Dinge weiss. Aber er weiss nicht um sein eigenes Geheimnis, das auch in den Dingen ist.

Dadurch, weil er das Wesen der Dinge nicht kennt, ist der Jedermann Knecht des Niemands. Dadurch aber, dass der Niemand keine Möglichkeit hat, sein Wissen um das Geheimnis seiner Selbst zu vermitteln, wird er immer stärker abhängig von seinem Knecht, der ihm sein eigenes Herrsein, sein eigenes Selbstsein also, vermittelt. Es scheint so zu sein, dass der Herr zum Knecht wird und der Knecht zum Herrn.

Dieses Geschehen findet statt im Menschen. Es ist das verborgene Gespräch zwischen dem Niemand und dem Jedermann. Geheimnis und Vermittlung. Till Eulenspiegel würde vielleicht sagen, dass da weder Herr noch Knecht ist, sondern doch nur Knerr und Hecht. Kein Gesetz macht letzlich das herrliche Geheimnis vermittelbar, und kein Gesetz verwandelt diese Vermittlung in wunderbare Poesie. Der echte Outlaw ist das Kind in seinen freien Träumen. Kindliche Freude am Geheimnis der Welt schafft es, dass keine Rede mehr ist von Herr und Knecht, dass Jedermann nicht mehr den Niemand töten, und Niemand nicht mehr den Jedermann provozieren muss.

In der Moderne scheint der Mensch erwachsen geworden; vielleicht ist es nun – am Ende der Moderne – die richtige Zeit, um zum Kinde zu pubertieren.

 

 
 
Dieses Essay wurde im Begleitheft zum Bildweg Braunschweig "Till Eulenspiegels Hochzeit veröffentlich.
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