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Daniel Ambühl  Bildweg  >  Dokumente

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Phase und Zusammenhang
  "Die menschliche Existenz kann unter vielen Gesichtspunkten betrachtet werden, und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie unter keinem zu erschöpfen ist. Einer von ihnen besteht in der eigentümlichen Spannung zwischen der Selbigkeit der Person und dem Wandel ihrer näheren Bestimmung.

Der Mensch charakterisiert sich immer neu. Seine körperlich-seelischen Zustände wechseln beständig. Ein anderes Bild zeigt sich, wenn er arbeitet, oder sich erholt, wenn er im Kampf oder im ruhigen Besitz steht. In der Beziehung zu jedem neuen Menschen erscheinen andere Momente seines Wesens. Die verschiedenen Zustände der Gesundheit, der beruflichen und sozialen Situation können bis ins Innerste reichen. Die entstehenden Unterschiede sind manchmal so gross, dass die Selbigkeit in Frage gestellt scheint - vor allem dann, wenn sich abnorme Erscheinungen zum Beispiel schizoider Art herausbilden.
Trotzdem ist es immer der gleiche Mensch, um den es sich handelt. Die Verschiedenheit der Zustände hebt die Einheit nicht auf, sondern diese behauptet sich in jener. Noch in der scheinbaren Zerstörung ist sie durch das Moment des Schicksals zu ahnen.

Wir wollen nun eine Art von Zuständigkeiten ins Auge fassen, die für das Verständnis des Menschen von besonderer Bedeutung sind, nämlich die Lebensalter.

Sofort erhebt sich die Frage, wo wir dabei die Grenzen ansetzen sollen. An sich stellt jeder Lebensabschnitt etwas Neues dar. So zum Beispiel eine Phase des Tages: Der Morgen, der Mittag oder Abend; oder eine Tag-Nacht-Einheit gegenüber der vorausgehenden; der ein ganzer Jahreslauf verglichen mit dem vergangenen, und sei es auch nur in dem Sinn, dass der betreffende Lebensabschnitt einzig ist, weil er ja nicht mehr wiederkehrt. Die Unbedenklichkeit, mit der wir in Bezug auf ein bestimmtes Leben sagen:"so und so viele Tage, Wochen, Jahre", ist eine Täuschung, welche dem Ernst der Einmaligkeit auszuweichen sucht. Wir schieben dabei die mechanische Gleichförmigkeit der abstrakten Stunden oder Tage vor. In Wahrheit sind jede Stunde, jeder Tag, jedes Jahr lebendige Phasen unseres konkreten Daseins, deren jede nur einmal kommt, da sie eine unvertauschbare Stelle in dessen Ganzen bildet.

Darin, dass jede neu ist, noch nicht da war, einzig ist und für immer vergeht, liegt ja auch die  Spannung des Daseins; der innerste Anreiz, es zu leben. Sobald er nicht mehr empfunden wird, entsteht ein Gefühl der Monotonie, das sich bis zur Verzweiflung steigern kann. Ebendaraus erwächst aber auch die Schwere der Tatsache, dass nichts Vergangenes einzuholen ist, und damit die Not des Verloren-Habens.

So hat jeder Versuch, eine bestimmte Phase herauszuheben etwas Willkürliches. Trotzdem gibt es Einschnitte, die so tief greifen, das sie zu einer besonderen Heraushebung berechtigen.

 

II

 

Da wir hier nur einen sehr begrenzten Raum zur Verfügung haben, nehmen wir die Phasen sehr weit, und zwar unterscheiden wir folgende: Das Kind .. den jungen ... den mündigen ... den reifen ... den alten ... den senilen Menschen. Es liegt auf der Hand, dass hier Untergliederungen möglich sind. So stellt zum Beispiel das Kleinkind eine andere Lebengestaltung dar als das Grosskind; dieses wieder eine andere als Knabe und Mädchen. Darauf einzugehen, würde uns aber ins Uferlose führen.

Zwischen den Phasen, die wir genannt haben, liegen typische Krisen: Zwischen der Altersstufe des Kindes und der des jungen Menschen die Krise der Pubertät ... zwischen der des jungen und des mündigen Menschen die der Erfahrung... zwischen der des mündigen und des reifen die des Grenzerlebnisses ... zwischen dem reifen und alten Menschen die der Loslösung, zwische dem alten und senilen Hilfloswerden.

 

Diese Phasen sind echte Lebensgestalten, die man nicht voneinnader ableiten kann. Man kann die Haltung des jungen Menschen nicht aus jener des Kindes heraus verstehen - ebensowenig wie die Existenz des Kindes als blosse Vorbereitung auf den jungen Menschen verstehbar ist. Jede Phase hat ihren eigenen Charakter, der sich so stark betonen kann, dass es für den sie Lebenden schwer wird, aus ihr in die nächste überzugehen.

Diese Schwierigkeiten können sich sogar fixieren. Dann wird eine Phase noch festgehalten, wenn sie schon ausgelebt sein sollte, und eine neue an der Zeit ist; denken wir etwa an den infantilen Menschen, der seinem Alter nach mündig sein sollte, aber noch die Gefühls- und Charakterhaltung des Kindes hat. Es kann aber auch sein, das die betreffende Phase so sehr auf die folgende hingeordnet wird, dass sie sich gar nicht in ihrem eigentlichen Wesen entfalten kann: denken wir etwa an die verhängnisvolle Erscheinung, dass ein Kind keine Möglichkeit hat, wirklich Kind zu sein, weil eine zerrüttete Umgebung es vor der Zeit wissend macht, oder weil es infolge wirtschaftlicher Not arbeiten muss, wann es eigentlich sollte spielen dürfen…

Die Lebensgestalten bilden auch Wertfiguren in dem Sinne, wie wir in dieser Vorlesung das Wort immer wieder brauchen. In ihnen tauchen bestimmte Werte auf, die unter bestimmen Dominanten stehen und so charakteristische Gruppen bilden. Sie zeichnen die sittliche Möglichkeiten und Aufgaben der betreffenden Lebensphase.

In ihnen allen ist es immer ein und derselbe Mensch, der da lebt. Und nicht nur das gleiche biologische Individuum, wie bei einem Tier, sondern die nämliche Person, die um sich weiss und die betreffende Lebensphase verantwortet. Das zeigt sich zum Beispiel im Phänomen der Erinnerung und der Voraussicht, über die wir ja in einem früheren Zusammenhang eingehend gesprochen haben. Der Mensch kann auf die durchlaufenden Phasen zurückblicken und sich vergegenwärtigen, was in ihnen geschehen ist. Aber, und darin besteht die eigentliche Erinnerung, nicht bloss als ein Feststellen objektiver Vorgänge, sondern bezogen auf das eigene Sein; als Vorgänge im eigenen Leben, in welchem bei aller Verschiedenheit doch wiederum alles zusammenhängt und zur Verwirklichung - oder Verfehlung - des Daseins beiträgt ... Entsprechendes geschieht in der Voraussicht. Jeder Plan für den morgigen Tag, für die nächsten Wochen, für das laufende Semester. für das künftige Jahr, ist ein solches Vorausschauen in das, was noch nicht ist; es wird anders als die Gegenwart sein und dennoch zur Einheit der gleichen personal bestimmten Existenz gehören.

An den Pänomenen der Erinnerung und der Voraussicht wird aber auch deutlich, wie scharf die einzelnen Phasen sich voneinander abheben. Denken wir etwa an die Schwierigkeiten, die der erwachsene Mensch hat, sich in seine Kindheit zurückzuversetzen, wie sie wirklich war. Sie also weder als etwas Überholtes abzutun, noch in ihr die Zeit einer verlorenenen Glückseligkeit zu sehen. Wie wenig das gelingt, zeigt sich immer wieder im Vorgang der Erziehung: wenn etwas der Erwachsene einem Kind Haltungen oder Leistungen zumutet, die so ungemäss sind, dass offenbar wird, er hat ganz vergessen, wie er selbst als Kind sich empfand.

Sie sehen wie hier die Dialektik von Lebensphase und Lebensganzem hervortritt. Jede Phase ist ein Eigenes, das weder aus der voraufgehenden noch der folgenden abgeleitet werden kann. Andererseits ist jede Phase aber ins Ganze eingeordnet und gewinnt ihren vollen Sinn nur, wenn sie sich wirklich auf es hin auswirkt.

Und nun versuchen wir, die verschiedenen Phasen herauszuarbeiten.

Dabei bitte ich Sie aber, etwas im Auge zu ehalten. Der vorgegebene Rahmen erlaubt uns nicht, feine Unterscheidungen zu machen, sondern wir müssen die Bilder in grossen Zügen zeichnen. So wird man bei jedem Bild Einwendungen erheben können: das habe ich bei mir selbst anders erfahren; davon habe ich bei Menschen, die ich kenne, einen anderen Eindruck gewonnen, und so fort. Wenn die Charakteristik ganz richtig sein sollte, müsste man den betreffenden Zustand so zeichnen, wie er sich bei einem bestimmten Menschen entwickelt hat; dann hätten wir aber nicht mehr Philosphie zu treiben, sondern Geschichte; und zwar Individualgeschichte, das heisst Biographie.

Das ist aber nicht unsere Aufgabe; so suchen wir nach den typischen Formen, die eben als solche nirgendwo ganz richtig, aber, wenn richtig herausgebracht, in jedem Fall irgendwie stimmen werden."

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Romano Guardini.

Aus der Einleitung zu: "Die Lebensalter",
einer Vorlesungsreihe über Grundfagen der Ethik von 1953.
Veröffentlicht als Topos Taschenbuch Nr. 160
ISBN 3-7867-1256-5

 
     

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