Daniel Ambühl  Bildweg  Ybrig  Dokumente  Schulreise Willerzell  

Kurzfassung der Geschichte vom Brennesselmann
Die Lehrerin Susanne Hubli hat diesen Text angefertigt für die Kindergartenkinder und Schülerinnen und Schüler der 1. und 2. Klasse

 

 

DER BRENNESSELMANN

 

 

1. KAPITEL

 

Der Abt rief mich eines Tages zu sich um mir etwas zu zeigen.  Mit  Hilfe einer Leiter überstiegen wir eine Mauer und kamen in eine Art Garten. Dieser Garten ähnelte eher einem Raum ohne Dach. Von keinem Ort des Klosters konnte man in diesen Raum sehen. Der Garten war mit hohen, stark duftenden Brennesseln bewachsen.

Auf vielen Pflanzen waren Raupen zu sehen, die an den grünen Blättern frassen. In den tiefen Ritzen zwischen den Mauersteinen hingen Stürzpuppen von Schmetterlingen. Auf einem Mauervorsprung sass ein Schmetterling, der plötzlich wegflog.

Ich hätte soviele Fragen zu diesem wundersamen Garten gehabt, traute mich aber nicht, sie dem Abt zu stellen.

Zurück im Arbeitszimmer des Abtes sah ich zwei vollgepackte Ledertaschen auf einem Holzgestell an die Wand gelehnt.

Der Abt sagte zu mir: „Einer unserer Brüder hat vor vielen Jahren das Kloster verlassen. Seither lebt er ganz alleine in den Alpen des Hoch-Ybrigs, und selbst im Winter kommt er nie ins Dorf Oberiberg. Obwohl er nicht mehr zu unserer Klostergemeinschaft gehört, bringen wir ihm jedes Jahr ein paar Sachen für den langen Winter. Heute wirst du die Wanderung ins Hoch-Ybrig machen um dem Brennesselmann - so nennen ihn die Einheimischen - alles zu bringen. Frag unterwegs nach ihm und du wirst ihn finden.

Noch am selben Abend machte ich mich auf den Weg nach Gross, Euthal, Unteriberg, bis ich nach dem Aufstieg durch die Jessenen das Dorf Oberiberg erreichte. Hier sagte  mir ein Mann, ich solle vom Tschalun über die Buoffenalp erst zum Laucherentobel aufsteigen, wo der Alppfad in den Weg zur Fuederegg einmünde. Von dort sei es nur noch ein kurzes Stück bis ins Hoch-Ybrig.

 

 

2. Kapitel

 

Aus dem Wald des Laucherentobels hörte ich seltsame Geräusche. Es waren Soldaten, die im Auftrage des Königs Wasser aus der schwefligen Heilquelle abfüllten. Dieses trübe Wasser stank mächtig, aber es war seit Urzeiten als „Berggeist“ bekannt.

Ich erzählte den Soldaten von meinem Auftrag, einem Mitbruder, der in der Einsamkeit lebe, ein paar Sachen für den Winter zu bringen.

Die Soldaten erzählten mir von ihrem eigentlich geheimen Auftrag einen Sektenbruder, der  Brennesselmann genannt wird, zu fangen und einzusperren.

Der Brennesselmann soll angeblich Wanderer misshandelt und entführt, aber auch Kranke geheilt haben. Er habe eine grosse Anhängerschaft in der Stadt und seine Jünger würden sich SCHMETTERLINGE nennen und mit langen, flatternden Tüchern bekleiden.

Das Ganze solle damit angefangen haben, dass es in der Stadt vor vielen Jahren eine aussergewöhnliche Menge von Schmetterlingen gegeben habe.

Die Anhängerschaft des Brennesselmannes redeten den Leuten des Landes ein, sich an den Schmetterlingen ein Vorbild zu nehmen.  Die Leute sollen nicht mehr so viel arbeiten und sich nur noch den schönen Sachen widmen. Es kam zu Krawallen zwischen den Leuten und den Anhängern des Brennesselmannes. Der Brennesselmann soll an allem Schuld gewesen sein, weil er all die vielen Schmetterlinge, die in der Stadt auftauchten, gezüchtet haben soll.

Nach diesen Mitteilungen verabschiedete ich mich von den Soldaten und machte mich weiter auf den Weg Richtung Fuederegg.

 

  

3. Kapitel

Als ich um eine Wegbiegung kam, sah ich Rauch, Flammen und eine Feuerstelle am Rande einer Lichtung. Im Halbdunkel des Waldes entdeckte ich einen Mann. Er trug einen langen, bunt gefleckten Rock und um den Hals eine Kette mit einem in Gold getauchten Schwalbenschwanz-Schmetterling.

Es war der Brennesselmann.

Ich stellte mich vor, erzählte hastig von meinem klösterlichen Auftrag und schilderte ihm die bedrohliche Lage, in der er sich befände. Dies alles schien aber den Brennesselmann nicht sonderlich zu beunruhigen.

Nach einer Weile gingen wir gemeinsam zu seiner Hütte.

 

 

4. Kapitel

Das Haus des Brennesselmannes lag auf dem Sattel der Fuederegg. Von dem Haus war nur das Dach und der Kamin zu sehen, alles andere war von mannshohen Brennesseln zugewachsen. Nur über einen schwankenden, hölzernen Steg konnte man durch eine Dachluke ins Haus gelangen. Im Haus war es düster, denn durch die überwucherten Fenster drang fast kein Licht ins Innere.

Als ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah ich viele schlafende Menschen, die unter Tücher versteckt am Boden sassen. Der Brennesselmann stiess einige mit seinem Schuh an : „Aufwachen!“ Nun kamen sie langsam unter den Tüchern und Decken hervor: Junge, Alte, Männer, Frauen und sogar ein etwa fünfjähriges Kind mit seinen Eltern.

Der Brennesselmann führte mich nun durch seine Hütte. Wir stiegen auf den Dachboden. Dort hingen Abertausende von Schmetterlingspuppen an den Balken und Brettern des Unterdaches. Von hier kommen all die Schmetterlinge, die im Tal und in der Stadt für Aufregung sorgen. In einem anderen Raum sah ich einen Haufen. Es sah aus wie alte Kleider. Der Brennesselmann gab mir ein Stück in die Hand, es fühlte sich an wie fettiges Papier. Plötzlich erschrak ich und liess das Stück fallen. Es war die Haut eines Menschen.

Auf dem Haufen lagen Hunderte dieser Menschenhäute. „Wie du vielleicht weißt“, erklärte mir der Brennesselmann, „häuten sich die Raupen im Verlauf ihrer Entwicklung einige Male. Bei den Menschen ist das nicht anders. Was du hier siehst, sind die Häute all der Besucher, sie sich eine Stufe weiterentwickelt haben und mir als Dank ihre alte Haut geschenkt haben. Aber wie bei den Raupen, so ist es auch bei den Menschen: Nach einer Häutung erkennt man sie manchmal nicht wieder.

Daher kämen auch die Gerüchte, dass die Wanderer, die zu ihm in die Berge kämen, verschwunden seinen. Es seien aber alle wieder zurückgemkommen, nur seien sie von ihren Freunden und Bekannten nicht wiedererkannt worden. Der Brennesselmann beendete seine Führung und wir stiegen wieder in den grossen Raum hinab.

Plötzlich erschallte von draussen ein Trompete. Die Soldaten näherten sich der Fuederegg. „Ergebt euch und kommt raus“, rief der Kommandant.Schon kamen zwei Reiter durch die Brennesseln  und legten mit Fackeln kurzerhand Feuer. Wir alle mussten aus dem Haus flüchten, um nicht zu verbrennen. Die Soldaten fingen die Menschen in ihren bunten, flatternden Tücher einen nach dem anderen ein. Mich erkannten die Soldaten wieder und liessen mich frei. 

 

 

5. Kapitel

Die Gefangenen wurden an einer Kette hinten an den Karren gefesselt. Der Abschluss der Kette bildete der Brennesselmann. Die Soldaten und die Gefangenen bewegten sich durch den engen, gewundenen Weg durch den Grüenwald zum Seeblisee hinunter.

Auf halbem Weg kamen  ihnen etwa hundert Kühe entgegen, es war eine Alpabfahrt. Da der Weg zu eng war zum Kreuzen, wurde diskutiert, wer denn nun umkehren müsse. Schliesslich kam man darauf zu reden, wohin man denn wolle, und als der Kommandant angab, ins Tal hinunter zu fahren, sagte ihm ein Senn, dass er sowieso in der falschen Richtung unterwegs sei.

Es gebe keinen Weg über die Weglosen ins Tal.

Also befahl der Kommandant den Soldaten umzukehren. Erst jetzt sah der Senn die Gefangenen. „Was hat denn der Alois angestellt?“, fragte er den Kommandanten  und zeigte auf den Brennesselmann. „Ihr kennt den Brennesselmann?“ wunderte sich der Kommandant. „Ich habe ihn schon gesehen,“ antwortete der Senn, „aber das hier ist nicht der Brennesselmann. Das ist der Alois, der früher einmal  Senn war in der Mördergruebi, dem Älpli ob dem Steinboden.“

Nun erzählte der Senn, was er von Alois wusste. Alois sei ein fauler Senn gewesen. Das hätte man schon bald gesehen, weil vor seiner Sennerei Brennesseln wuchsen. Er hätte den Stall nicht richtig ausgemistet, die Gülle sei über den Abhang geflossen, und da seien dann die Brennesseln gewachsen. Die Bauern haben ihm die Kühe nicht mehr auf die Alp gegeben und darum sei er mit seiner einzigen eigenen Kuh auf die Fuederegg gekommen und habe sich dort ein Hüttchen gebaut.

Aber auch da seien schon bald rundum Brennesseln gewachsen. Eines Sommers aber seien aus dem Tal Wanderer angekommen, die den Brennesselmann gesucht hätten. Da habe Alois gedacht, er würde vielleicht etwas verdienen, wenn er die Wanderer bei sich übernachten liesse, sie bewirte und so tue, als sei er der Brennesselmann. Es habe sich für ihn auch gelohnt, denn die Besucher brachten ihm Geschenke und Esswaren.

Der Brennesselmann aber, der sei ganz anders. Der sei ein Eremit, ein Schmetterlingsforscher, ein Heiliger, aber scheu wie ein Reh.

Alois aber rief dem Senn zu: „Sag ihnen, dass ich nichts Böses getan habe und dass die Häute der Menschen  auf dem Dachboden nur aus Schweineblasen gemacht waren. Sag ihnen, dass es nur eine Schau war, weil das die Besucher doch so wollten. Sag ihnen auch, dass es nicht meine Schuld war, wenn die Leute nach dem Besuch in meiner Hütte nicht mehr an ihren Wohnort zurückgekehrt seien.“

Bei der Fuederegg war vom Haus nur noch ein schwarzer Fleck im Brennesselfeld übriggeblieben.

Die Sennen mit ihren Kühen und die Soldaten mit ihrem Heilwasser und den Gefangenen gemeinsam talwärts.

Ich aber entschied mich, erneut umzukehren, den zuvor eingeschlagenen Weg durch den Grüenwald zu Ende zu gehen, um vielleicht doch noch den Brennesselmann zu finden.

 

 

 

6. Kapitel

Unten am Seebli -See sass ein Fischer auf einer Landzunge. „Seid ihr noch nicht weiter, Pater?“, fragte er mich, und ich sah, dass es derselbe Mann war, der mir kurz nach Oberiberg den Weg ins Hoch-Ybrig erklärt hatte.

Als ich ihm kurz erzählte, was ich seit Sonnenaufgang erlebt hatte, lachte er und meinte: „Dann sind sie doch schon weiter gekommen, als ich zuerst gedacht habe.

„Sind sie dem Brennesselmann schon einmal begegnet?“, fragte ich den alten Mann.

„Ja, aber das ist schon lange her.“

Dann schaute mich der Fischer an:“Ich verstehe nicht, weshalb der Abt jedes Jahr Patres zu ihm schickt. Der Brennesselmann ist meiner Meinung nach schon lange gestorben. Ich müsste es jedenfalls wissen, wenn er noch lebte. Schliesslich bin ich immer hier oben.

 

Der Brennesselmann hat mir erzählt, dass er das Kloster verlassen hat, weil er nur vor Gott stehen wollte. Aber auch in den Bergen habe er Gott nicht gefunden und er hätte damit begonnen, Brennesseln zu züchten.

Aus den Samen der Brennesseln hat er Brot gebacken. Er hat den Raupen,die sich von  den Brennesseln ernährten, geholfen, Schmetterlinge zu werden.

Einigen wenigen Besuchern hat er vom Leben der Schmetterlinge  und von ihren wundersamen Verwandlungen erzählt. Darauf seien immer mehr Besucher gekommen, die diese Geschichten hören wollten.

Als dann zuviele Besucher kamen, brannte er seine Hütte ab und verliess den Ort.

Als ich ihn vor einigen Jahren traf, besass er keine Klause mehr und er sagte mir, er sei auf dem Weg, daheim und denen, die ihn suchten, gehe er entgegen.

 

 

7. Kapitel

Als ich nachts an das Tor des Klosters klopfte, hat der Abt schon auf mich gewartet. Der Abt entzündete im Herd Feuer und setzte Wasser auf. Ich legte den Brotsack, der mir der Fischer für den Fall, dass ich den Brennesselmann doch noch finden sollte, mitgegeben hatte, auf den Tisch und erzählte dem Abt alles, was ich auf meiner Reise erlebt habe.

Der Abt hörte aufmerksam zu. Nur einmal unterbrach er mich, als er das kochende Wasser vom Herd nahm und nirgends Tee finden konnte.

Nachdem ich meine Geschichte erzählt hatte, faltete der Abt die Hände vor dem Gesicht, legte sein Kinn auf die Daumen und schloss die Augen.

„Dass der Brennesselmann noch lebt“, begann er leise, „das glaube ich, ohne es zu wissen.“ Er öffnete die Augen und schaute mich an: „Die meisten seiner Bücher über die Schmetterlinge befinden sich in der Bibliothek des Klosters. Der versteckte Garten im Kloster  wurde vor langer Zeit gebaut, um diesem Bruder, dem Brennesselmann, immer einen Platz im Kloster freizuhalten.

Der Morgen graute schon, als ich mich endlich in meiner Kammer auf die Bettstatt hingelegt hatte, um noch eine halbe Stunde zu schlafen.

Da klopfte  es an der Tür. Es war der Abt. Er streckte mir den Brotsack, den ich auf dem Tisch vergessen hatte, lachend und kopfschüttelnd entgegen: „Ich habe die ganze Zeit Tee gesucht, und du hast deinen Brotsack bis oben gefüllt mit Brennesseltee.

 

 
 


Abzug des Bildwegs Ybrig vom 3. September 2001