Daniel Ambühl  Bildweg  Greifswald  Dokumente

 

Kunst und Irrtum
 

 

Aus Indien ist die Geschichte eines Meisters der Konzentration überliefert, der ein herausragendes Buch der Liebe geschrieben hat, während im Nebenzimmer sein Sohn, ein dreimonatiger Säugling, schrie. Das Buch ist leider verlorengegangen.

 

Wir wissen nicht, was Kunst ist. Kunst ist eine Annahme. Jeder Mensch kann annehmen, ein bestimmter Gegenstand A sei Kunst. Der Gegenstand kann ein Bild sein, eine Installation, aber auch ein Pullover, ein Stück Brot, ja selbst ein Klang kann Kunst sein. Selbst ein Klang der nur einmal ertönte, nicht aufgenommen wurde sondern tönte und verklang. Ein anderer Mensch hält gerade diesen Gegenstand A jedoch nicht für Kunst, aber vielleicht einen anderen, nämlich den Gegenstand B, ein anderes Bild, ein Motorrad, ein Buch. Viele Dinge können Kunst sein. Beiden Dingen aber, A und B, - das ist simpelste Mengenlehre - ist gemeinsam, dass sie von einem Menschen als Kunst angenommen und für Kunst gehalten werden. Sind damit beide Gegenstände Kunst und ist letztlich alles Kunst?

Dasselbe gilt für Künstler. Wir wissen nicht wer ein Künstler ist. Der eine sagt - und nimmt damit an - Herr X sei ein Künstler. Der andere nimmt an, Frau Y sei eine Künstlerin. Gemeinsam ist Herrn X und Frau Y, dass jemand von ihnen glaubt, er oder sie sei ein Künstler, eine Künstlerin. Ein dritter hält sich selbst für einen Künstler. Wer möchte ihm widersprechen? Ist damit letztlich jeder ein Künstler?

Meine persönliche Situation: Man hält mich mancherorts für einen Künstler. Zum Beispiel wenn ich in einer Galerie vor meinen Bildern stehe. An der Kasse bei Aldi hält man mich wahrscheinlich spontan für etwas anderes. Ein Kunde vielleicht. Es sei denn man hätte mich in einer Zeitung abgebildet gesehen und dabei auch gelesen, ich sei ein Künstler. Es sei denn man hätte mich dann auch in Wirklichkeit wiedererkannt, als der, der in der Zeitung abgebildet war, oder es zumindest angenommen, ich sei der. Und vorausgesetzt man hätte sich auch erinnert, in welchem Zusammenhang das Bild stand. War das nun der Bankräuber, der Politiker oder der Künstler? So hätte man, bei viel Aufmerksamkeit und gutem Gedächtnis, also ausnahmsweise gar an der Kasse bei Aldi angenommen, dass ich ein Künstler sei. Man hätte angenommen die Zeitung hätte mit irgendeinem Recht angenommen und geschrieben ich sei ein Künstler und so hätte man, was die Zeitung annimmt selbstverständlich angenommen, es sei richtig und deshalb angenommen, ich sei ein Künstler. Dabei wollte ich doch einfach nur eine Flasche Cola bezahlen, an der Kasse im Aldi. Und die Frau an der Kasse wusste eigentlich nur, dass die Flasche Cola eine Mark 32 kostet. Und sie wusste auch bald, ob ich soviel Geld besass um diesen Betrag zu zahlen.

Andererseits gibt es auch Menschen, die selbst wenn ich vor meinen Bildern stehe, - und vielleicht sogar deshalb - nicht für einen Künstler halten. Dies hat zumeist damit zu tun, dass sie annehmen, ein Künstler mache Kunstwerke, dass sie gerade die Bilder, die ich mache, aber nicht für Kunstwerke halten und deshalb auch annehmen, ich sei kein Künstler, selbst dann nicht, wenn es in der Zeitung geheissen hat ich sei Künstler. Vielleicht aber nimmt man auch an, dass ein Künstler heute in einer Irrenanstalt leben müsse und nie in einer Galerie austellen dürfe. Ausserdem können Künstler nicht reden, sondern nur stammeln oder wenn sie reden können, darf man sie ja nicht verstehen, denn wenn einer etwas sagt, was ich verstehen kann, dann kann das doch kein Künstler sein. Viele Kranke behandelt man heute indem man ihnen die Rolle des Künstler zuspricht. Für die Gesellschaft scheint die Rechnung aufzugehen. Es ist doch schön, wenn die Krankheit einen Sinn hat, nicht wahr? Da hat der Kranke wenigstens etwas von seinem Leiden. Er wird durch seine Krankheit belohnt, wird durch seine Krankheit berühmt, verewigt. Wie die modernen Mediziner, die ihren Namen zumeist hergeben für die Bezeichnung von Krankheiten. Haben sie schon von einem Mediziner gehört, dessen Name für eine Heilung steht?

Item: Es gibt mindestens so viele Gründe weshalb man einen Menschen als Künstler betrachtet, wie es unendlich viele Gründe gibt, jemanden nicht für einen Künstler zu halten. Bestimmt aber ist gerade der Künstler in hohem Masse der Mutmassung ausgeliefert, was jemand von ihm, respektive wofür man ihn hält. Tatsächlich ist es doch so, dass sich jedermann Künstler nennen darf. Es ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Zum Glück, müsste man sagen, denn diese Offenheit zur persönlichen Stellungnahme des Betrachters, aber auch die Offenheit zur Möglichkeit des Irrtums seiner Stellungnahme spricht für die Kunst und vielleicht auch für die Kunst des Künstlers und für die Kunst des Betrachters.

Wir könnten sagen, Kunst sei all das, was vom Menschen als Kunst angenommen wird. Diese Annahme ist nicht anders zu bestätigen, als in der Annahme selbst. Kunst ist eine unbeweisbare aber auch unwiderlegbare Behauptung. Um sich mit Kunst beschäftigen zu können müsste man zur Voraussetzungslosigkeit befähigt sein. Diese Befähigung zur Voraussetzungslosigkeit bezeichnet Jakob Burckhardt als Aufgabe des wahrhaftig nach Erkenntnis suchenden, d.h. geistigen Menschen, in der Einleitung zu seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen. Das ist von diesem Gelehrten mit Sicherheit nicht einfach leicht dahingesagt. Kausalistisch ist die Aussage nämlich eine eindeutige Sackgasse. Wie kann die Voraussetzung einer Aufgabe die Befähigung zur Voraussetzungslosigkeit sein? Vielleicht indem man Aufgabe und Annahme als einander zugehörig betrachtet. Kann doch nur etwas aufgegeben werden, das auch angenommen wird. Und vielleicht indem man die hierarchische Struktur der Begriffe von Aufgabe und Annahme, die doch Urgrund der kausalistischen Verquickung von Voraussetzung und Nachkommenden ist, offen lässt. Es ist nicht die Aufgabe zuerst und dann die Annahme. Vielleicht ist auch die Annahme zuerst und dann kommt erst die Aufgabe. Vielleicht ist beides zugleich da, also von ausserhalb einer zeitlichen Dimension her kommend; sich aber hier in Raum und Zeit dualistisch ausdrückend. Nehmen und Geben. In der heiligen Schrift, der Schrift der Ganzheit, sind die beiden Worte genau gleich geschrieben. Nehmen und geben werden in Hebräisch mit den genau gleich Buchstaben geschrieben. Der Leser ist frei, ob er das Wort "nehmen" oder "geben" liest.

Zum Beispiel die Türe: Sie geht auf und jemand kommt herein. Geht sie nicht auf kommt auch niemand herein. Also muss die Türe zuerst aufgehen, bevor jemand hereinkommen kann. Kann aber die Türe offen stehen, ohne dass jemand hereinkommt? Ja, durchaus. Weshalb aber sollte die Türe offen stehen, auch wenn gerade niemand hereinkommen möchte? "Ja," sagt man, "sie ist offen, weil doch jederzeit jemand hereinkommen könnte." Das ist nett gesagt. Aber wozu ist denn da eine Türe? Dann würde doch der Türrahmen reichen. Und die Türe könnten wir gleich weglassen. Mhh.

Es ist vielleicht so, weil das Hereinkommen und das Hinausgehen im Bild der Türe anwesend sind. Nach zwei Seiten kann sie ausschwingen. Nach Innen und nach Aussen. Die Türe ist eben nicht nur eine Grenze zwischen dem Haus, - also Innen - und der Welt - also aussen. Sie ist auch die Verbindung zwischen innen und Aussen. Sie ist eine bewegliches Stück Wand. Ein bewegliches Stück Mauer. Dadurch dass diese Türe ein Stück Mauer ist, schützt sie sowohl das Innen wie auch das Aussen. Dadurch aber, dass die Türe beweglich ist, ermöglicht sie die Begegnung zwischen Innen und Aussen. Das Hereinkommen und das Hinausgehen heisst: offene Türe. Von daher gesehen ist dieses kausalistische Gesetz: "Zuerst muss die Türe offen sein, erst dann kann jemand hereinkommen" zwar einerseits richtig. Anderseits steht die Türe schon für das Hereinkommen und Hinausgehen. Sonst wäre da nämlich keine Türe, sondern einfach ein Stück Wand. Dadurch steht die Türe aber auch für "offen sein". Die Türe ist Offenheit, selbst dann, wenn sie faktisch verschlossen scheint. Sie steht aber auch für Verschlossenheit, selbst dann wenn sie offen scheint. Damit meinen wir in anderer Terminologie: Austausch. Damit meinen wir aber auch: Bedingung. Aber nicht im Sinne von Zollabgabe. Nämlich so, dass der Erhalt und das Wachstum der Eigenart des Innen und des Aussen bedingt ist vom Mass der Verschlossenheit und Offenheit ihrer gemeinsamen Grenze. Man darf sich aber dieses Mass nicht als einen festen Wert vorstellen. Das wäre so dämlich, wie wenn man aufgrund der Überlegung, dass doch die Türe pro Tag nur während 3 Minuten geöffnet ist, sie einfach zwei Zentimeter offen stehen lässt und dafür fest so mauert. Dann kommt gar kein Gast mehr mehr herein und heraus und es gibt im Innern Durchzug und Erkältungskrankheiten. Das Mass der Verschlossenheit und Offenheit der Grenze ist kein starrer, fester Wert, es ist eine Bewegung, Rhythmus und Melodie des Auf- und Zugehens einer Türe, des Hereinkommens und Hinausgehens von Gästen. Das ist zwar eine etwas umständliche Definition von Türe. Man muss sich aber an sie auch nicht erinnern, wenn es an ihrer Haustüre morgen klingeln sollte. Aber vielleicht wäre es denkbar, sich die Türe als die Offenheit des Verschlossenen zu merken. Offenbarkeit des Verborgenen. Transzendenz sagt man dem auch. Deshalb ist die Türe und das Tor auch zentrales Thema jeder Religion. So gesehen stellt die Annahme der Kunst durchaus auch eine Aufgabe dar.

Gewiss: Es existieren gesellschaftliche Vereinbarungen darüber, was in einer Zeit in einer bestimmten Gesellschaft als Kunst gilt. Diese Vereinbarungen - es sind banale Machtmechanismen - ändern von Zeit zu Zeit von Gesellschaft zu Gesellschaft. Kunstgeschichte ist in ihrer untauglichensten, wenngleich leider auch in ihrer verbreitetsten Form - die Historie solcher sogenannt gesellschaftlich relevanter Vereinbarungen zur Kunst. Von Relevanz zu Relevanz. Sie schreibt die Geschichte der gesellschaftlichen Machtmechanismen unter dem Titel "Kunst". Die Kunst an sich bleibt von dieser Art Kunstgeschichte jedoch unberührt. Ob es eine Geschichte der Kunst, also eine Geschichtskunst anstelle der Kunstgeschichte überhaupt geben kann, muss fraglich bleiben. Zuerst wäre dann wohl zu prüfen, was Geschichte sei, aber auch was Natur sei und worin sich Natur als mechanistisches, kausalistisches, physikalisches System unterscheidet vom geistigen Gebäude der Geschichte.

Auch im einzelnen Menschen kann sich die Annahme, was Kunst sei, ändern, von Lebensphase zu Lebensphase, von Erfahrung zu Erfahrung, von Bedürfnis zu Bedürfnis. Die Annahme, was Kunst sei, ist jeweils auf die Gegenwart gerichtet, auf die Begegnung mit dem Hier und Jetzt der Welt. Dies gilt selbst dann, wenn scheinbar über längst vergangene Kunst gesprochen wird. Gesprochen wird in der Gegenwart und das scheinbar vergangene Kunstwerk wird damit wieder gegenwärtig. Das vergangene Kunstwerk besitzt aber zugleich eine eigene Gegenwart, die von der jetzigen Gegenwart, der gegenwärtigen Gegenwart, abgeschieden ist, nicht nur abgeschieden, sondern vielmehr noch, geschützt und erhalten in ihrer Einzigartigkeit durch die Dimension der Zeit. Die Vergänglichkeit ist zugleich Schutz der Einzigartigkeit der früheren Gegenwart. Die Betrachtung der Zeit als Untergang ist eine naturhafte und nicht geschichtlich. Zum geschichtlichen Bewusstsein gehört der Respekt vor der ewigen Einzigartigkeit aller zeitlichen Momente. Die zeit hat trennede und verbindende Seite. Sie erinnern sich doch noch an die Türe. Andere, frühere Gegenwart wird nicht mehr gegenwärtig. Sie kommt aus dem Fundus des Geschichtlichen hinein in die jetztige Gegenwart. Ist Gast, ein Besucher aus dem Ewigen. Diese Bewegung der Wandlung einer Haltung des Menschen und der Wandlung seiner Annahmen von Unwissbaren, könnte man als Geschichte bezeichnen. In der Geschichte gibt es keinen Untergang und kein Aufgehen und Wiederauferstehen. Und nur deshalb, weil die Geschichte ausserhalb dieser naturhaften Kategorien steht, kann sie die Natur und ihre Aufgänge und Untergänge beschreiben. Damit nimmt sie aber zugleich die Natur aus ihrer Verlorenheit im Untergang und Aufgang heraus. Deshalb ist Geschichte und Sprache und Denken und Geist immer Ausdruck eines dem Alleinsein der Natur widersprechenden Urgedankens. Widerspruch aber als ein Gegenüberstehen. Wie Mann und Frau. Widerspruch als Möglichkeit zu einem Dialog, einem Gespräch, einer Ehe, mit Kindern und Enkelkindern. Freilich kann man diesen Gedanken, dass es noch etwas gäbe ausser Natur und Materie auch ablehnen. Und offenbar gibt es im Bereich derer, die sich ausschliesslich mit Materie und Natur befassen, nichts, was zwingend wäre, diesen Gegepol anzunehmen. Vielmehr bestrebt die Naturwissenschaft, alle aufkeimenden Gedanken, die der alleinigen Herrschaft der Natur widersprechen, immer wieder mit einem pathologischen Eifer und absurdem Einsatz in ihr Gebäude einzubauen.

Der einzelne Mensch muss mit gesellschaftlichen Kunstnormen keineswegs übereinstimmen.

Er ist ausdrücklich frei. Dies wird in der neuen Schweizer Bundesverfassung in einem eigenen Artikel ausgesprochen. Art 21 lautet : "Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet." Hier müsste sich der Staat und das Gemeinwesen Argumente zurechtlegen, um zu begründen, weshalb sie dennoch gewisse Kunst als förderungswürdig betrachten, andere nicht. Wiederspricht dies nicht der Freiheit der Kunst, wenn die Kulturförderung des Staates ob eingestanden oder verdrängt als Zensurstelle fungiert? Dasselbe ist von Kunstinstituten und Kunstschulen zu sagen, die einen bestimmten Stil oder eine bestimmte Ausdrucksform als künstlerisch definieren. Ist dann die Freiheit der Kunst noch gewährleistet? Die Tatsache, dass erst 1998 dieser Satz in die Bundesverfassung neu aufgenommen wurde, lädt ein zu vielen Fragen: Galt früher dieser Satz nicht? Noch nicht? Oder war er eine Selbstverständlichkeit? Ist die Freiheit der Kunst bedroht? Ist die Freiheit der Kunst insbesondere in der Gesellschaft, dier sich um sie zu bemühen zu müssen meint, bedroht? Kann der Staat überhaupt die Freiheit der Kunst gewährleisten? Ist die Angabe der Leistung dieser Gewähr nicht eine Frechheit und Anmassung? Steht nicht die Freiheit der Kunst eben gerade dem Staat gegenüber. Nicht entgegen, wie der Staat oft meint, - gegenüber. Was will denn die Gesellschaft von der Kunst vereinnahmen? Die Stimmung einer Gesellschaft, die sich in der Art solcher Grundsätzen " Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet." äussert, ist eines mit Bestimmtheit: Ängstlich, verunsichert. Der Satz " Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet" tönt wie ein Ruf nach der Kunst, die der rufenden Gesellschaft zu entgleiten scheint. Ein Werbespruc zur Wiederansiedelung der Kunst. Dieser Instinkt ist zweifellos richtig. Die Annahme des Entgleitens aber geht von der falschen Annahme aus, die Gesellschaft habe je Kunst besessen und habe je über sie verfügt. Die Gesellschaft besass nie Kunst. Wenn sie der Kunst Raum gab, dann nur dort, wo sie sich aus diesen Räumen zurückzog. Meist sind es Bruchbuden und Ödland, das sie selber nicht benötigt. Wohl deshalb ist sie stets so bemüht, dieses Gegenüber anzurufen und in die eigene Herrschaftsstruktur einzubinden. Die Freiheit der Kunst ist gewährleistet. Da schwingt unter dem herrischen Gelöbnispathos eine seltsame Verzweiflung mit, als ob auf der Seite der Eheanbahnungsannoncen im Selbstinserat einer jungen Frau der Satz stünde: "Die Freiheit des Mannes ist gewährleistet." Staat und Kunst stehen sich immer gegenüber. Jede Frau hat ein Recht für sich bestimmen zu wollen, wie ein ihr geeigneter Mann beschaffen sein müsste. Ob sich damit allerdings eine Ehe anbahnen lässt, die auf Liebe gründet, ist mehr als zweifelhaft. Überlassen wir dieses Problem denen, die sich dazu berufen und befähigt fühlen, beurteilen oder doch zumindest entscheiden zu können, was als Kunst zu gelten hat. Es ist der Bereich der verzweifelten Natur, der Bereich naturhafter, materialistischer Macht und Herrschaft.

Was ist nun Kunst? Ja, wir sind also tatsächlich noch nicht viel weiter: Eine Annahme, etwas sei Kunst. Aber zugleich auch die Annahme, etwas anderes sei nicht Kunst. Oder auch: Noch nicht Kunst. Denn wenn alles Kunst wäre, würde sich die Annahme, etwas sei Kunst erübrigen. Kunst könnte gar nicht entstehen. Sie hätte keinen Werdegang, keinen Weg und keine Dauer in dieser Welt. Wenn alles Kunst ist, sind die Menschen die so von ihr reden: ungeschichtlich. Wie kann etwas, was nicht entstanden ist, etwas sein? Kann etwas sein, ohne es geworden zu sein?

Da wir aber im Zeitalter der ungeschichtlichen Bildungsmenschen leben, sei es wiederholt: "Alles ist Kunst" Man sagt dies so dahin wie man gerade heute, wo alles nur auf Renditen und Anlageziele starrt, gerne zitiert: "Der Weg ist das Ziel" Der Weg ist eben gerade nicht das Ziel, weil der Weg der Weg ist und das Ziel das Ziel ist. Viel ehrlicher wäre es, zu sagen: Ich habe kein Ziele mehr, oder: Mir ist der Weg, die Bewegung abhanden gekommen. Zum Ziel gehören der Weg und das Ziel. Zum Weg gehören der Weg und das Ziel. Oft hört man dann : "Ja, ja, so habe ich das ja auch gemeint". Man fragt noch kurz zurück: "Wie hast Du, und was hast Du gemeint?" Meist hat man dann aber keine Zeit und keinen Weg mehr, weil doch gerade dieser Weg durch das Land der Bedenklichkeit nicht zu einem Ziel führen kann. Und auf solchen Wegen zu gehen wäre doch auch unsinnig, denn nicht wahr: Für den Weg braucht man Zeit und Zeit ist doch Geld. Wenn aber der Weg das Ziel ist, dann ist doch auch die Zeit das Ziel und der Weg das Geld. Auch ist das Geld das Ziel und der Weg die Zeit. Und alles ist eins. So schwungvoll entledigt man sich der Sprache.

Alles ist Kunst? Von Allem können wir bestenfalls in jeweils Einzelnem reden. Von dem und dem und dem und dem und dem. Von Allem das wichtigste ist aber das und zwischen dem Einzelnen. Alles können wir bestenfalls im Einzelnen oder von Einzelnem zu Einzelnem schauen. Ob wir dabei aber wirklich Alles schauen, ist zumindest fraglich, denn wir wissen nicht, was Alles ist. Es existiert keine rote Lampe die plötzlich nach einer langen Reihe von Einzelnem plötzlich aufleuchtet: "Alles!" Gäbe es sie trotzdem: Vielleicht leuchtete diese Lampe bloss zu Testzwecken. Und die vermeintlich Erleuchteten wären bloss ein Irrtum. Vielleicht erlischt die Lampe ja auch wieder nach einiger Zeit. Das aber würde natürlich den Schein der Erleuchtung nicht mindern. Andere würden gar behaupten: Die Lampe müsse nicht leuchten, um das Alles anzuzeigen: Sie müsse blinken. In ehrlichen Sekundenbruchteilen müssten manche gestehen: Ich vertraue eh nur dem Blinken der Lampe, die ich selber installiert habe. Der Rest ist Schweigen.

Wir wissen nur von Einzelnem, von dem wir annehmen, dass es zu Allem gehört, der umfassendsten Einheit des Daseins. Vielleicht aber gibt es gerade dieses unbestimmte und unbestimmbare Alles nicht. Kaum ausgesprochen, beginnt in letzterem Satz das "Alles" seiner Negation zu widersprechen. Wenn es Alles nicht gibt, weshalb gibt es denn das Wort Alles? Was heisst "gibt", "es", "nicht"? Könnte es ein Wort für etwas geben, das es nicht gibt? Löst sich jedes Einzelne im chaotischen Alles auf? Tritt das Einzelne als befristete Bestimmtheit aus der Leere und dem Chaos des Unbestimmten heraus und verschwindet hernach wieder im verzehrenden Nichts? Das wäre dann die naturhafte religiöse These. Oder ist das umfassende Alles eine verborgene Quelle jedes Einzelnen und kehrt dieses einzigartige, geschichtliche Leben mit dem Mehr seiner zeitlichen Erfahrung ins Ewige zurück? Könnte es sein, dass wir mit unserem zeitlichen Dasein auch die Ewigkeit bereichern und beschenken? Oder ist es so, dass wir mit unserer Einzigartigkeit und Bestimmtheit bloss den selbstgewissen Glückszustand des Chaos stören, für eine kurze Zeit nur, bis uns das Nichts wieder verschlingt? Ist nicht unsere Einzigartigkeit, unsere Individualität geradezu ein krankhafter Wahn, der dem Glück der Versunkenheit in allgemeiner Leere und unpersönlichem "Dasein" wie ein Geschwür anhaftet?

Nehmen wir an: Kunst gibt es nicht. Das Wort "Kunst" und alles, was aus ihm hervorgeht, sei ein Irrtum. Was wir von der Kunst als Annahme der Kunst sagten, können wir auch von der Kunst als Irrtum sagen. Jede Annahme beinhaltet doch die Möglichkeit des Irrtums. Darüber hinaus ist jede Annahme aber auf die Klärung der Frage "Irrtum oder nicht" hingerichtet. Die Annahme möchte erlöst werden aus ihrer Ungewissheit. Dieser Drang ist umso stärker, je unsicherer seine Richtigkeit scheint. Sehnsucht und Zwang, Wunsch und Verzweiflung enthemmen sich, stürmen in die Nähe von Gewalt, Krieg und Vernichtung. Jede Annahme aber ist sich bewusst, dass sie noch nicht erlöst ist. Sie ist sich auch bewusst, dass jede scheinbare Erlösung auch wiederum nur Anlass zu einer neuen Enttäuschung (oder Klärung) ist, dass es eine Gewissheit für die Richtigkeit der Annahme nicht gibt. Eine greifbare und nachvollziehbare Bestätigung dafür, dass etwas Kunst ist, - man denke dabei an eine Art Lackmustest - widerspräche der Annahme, dass etwas Kunst sei. Wir wüssten dann, was Kunst ist: In diesem speziellen Fall: Ein Irrtum.

Jeder Irrtum äussert sich auch. Er hat eine erscheinende Seite. Ist je etwas angenommen worden, ohne dass es in der Welt materiell erschienen wäre? Erschienen ist es dann vielleicht als Lüge, als Irrtum, aber es ist erschienen. Zum Beispiel in einem Gespräch, in einem Text einem Bild, einem Gebäude, und auch in den Menschen die darin Dienst tun. Auch die irrtümliche Annahme, es gäbe und etwas sei Kunst, hat ihre Werke. Ob man die nun Kunstwerke oder Irrtumswerke nennen will, ist nicht so entscheidend, weil uns zur Zeit noch die Möglichkeiten fehlen, ein verbindliches Urteil zu fällen. Was wir aber annehmen ist: Allein im Wort "Kunst" liegt schon der Kern von Dingen, die in der Welt erscheinen.

Wir sagen im vorauf gehenden leichthin, etwas könne Kunst sein. Das ist ungenau. Etwa so ungenau wie wenn wir sagen würden, jemand spreche die Wahrheit. Es kann sein, dass diese Person etwas Wahres ausspricht und dass wir annehmen, dieses Wahre habe Anteil an der Wahrheit. Ebenso könnten wir von einem Ding sagen, dass es ein Kunstwerk sei und damit annehmen, es habe Anteil an der Kunst. Das grossartige an der Kunst ist, dass sie den Menschen in seiner ureigenen Freiheit anspricht, etwas ohne Gewissheit anzunehmen. Im Akt dieser Annahme wird das Unbestimmbare und Unbestimmte gewandelt, indem es verbunden wird mit einer, persönlichen Stellungnahme. Persönliche Annahme ist untrennbar mit existentieller Verantwortung verbunden. Alle Auswege und Ausflüchte zur Delegation eigener Verantwortung an unpersönliche Gruppengebilde fallen dahin. Wer kann dies erragen? "Kein Mensch kann das ertragen!" ruft die Gesellschaft. Und weiter ruft sie: "Aber ich opfere mich für Euch. Gebt diese Last mir. Ich werde Euer Kreuz durch die Ehgräben des Alltags schleppen."

Auf der Ebene der Gesellschaft scheint es Gewissheit zu geben, was Kunst ist. Diese Gewissheit wird zwar selten ausgesprochen, sie zeigt sich aber im selbstverständlichen Funktionieren eines Kunstbetriebs. Viele Funktionäre dieses Betriebs tun so, als ob das System einen Begriff der Kunst habe. Jede Gesellschaft hat auch ihre eigenen Gesetze der Geschichtsschreibung, auch der Schreibung der Kunstgeschichte. Das System der Kunstgeschichte verhält sich zum Beispiel auch ganz selbstverständlich so, als habe sie einen Begriff der Kunst. Daher rührt das unangenehme Gefühl, sich über die Kunst zu äussern. Während der einzelne Mensch etwas spürt von der Unsicherheit und der Möglichkeit des Irrtums in seiner Annahme, was Kunst sei, treten Gruppen und Gesellschaften und der Staat und der Markt oft so auf, als hätten sie das niedere Stadium der blossen Annahme, was Kunst sei, überwunden. Durch die eingebildete oder tatsächliche Macht dieser Gesellschaften äussert sich der Wille, festzulegen, was Kunst ist. Innerhalb des Systems ist dann Kunst keine Annahme mehr, was Kunst sei, sondern ein Bekenntnis zur Vollmacht der Gesellschaft, festzulegen, was Kunst ist, aber auch festzulegen, was eben nicht Kunst ist. Dies hebt zwar die Freiheit des einzelnen Menschen, anzunehmen was Kunst sei, nicht auf, verweist seine persönliche Annahme aber in den Bereich des Belanglosen, Beliebigen, Privaten und damit auch in den Bereich des Unsinnigen und gar des Asozialen. Wenn das Individuum solcherart nur in seinem Funktionieren für die Gesellschaft gilt, dann ist es naheliegend von der Gesellschaft als der naturhaften Organisationsform des Menschen zu sprechen.

 

Das System kennt die Freiheit einer Annahme, was Kunst sei, nicht, da es nur innerhalb seines Gesetzes eine Berechtigung hat. Dies meint nun keineswegs, dass diese Gesetze richtig oder gerecht sein müssen. Solche Gesetze können auch völlig sinnlos, ja diabloisch sein. Sie müssen aber festgelegt sein, um einen für die Menschen verbindlichen Rahmen einer Gesellschaft zu bilden. Das System einer Gesellschaft hat auch unabhängig von den Menschen, die sie verwaltet, ein Immunsystem, welches den Erhalt ihrer selbst bezweckt. Zuweilen auch gegen die Menschen, von welchen sie ursprünglich ihre Berechtigung und ihre Aufgaben bezog. Dasselbe gilt für den Markt, dessen Struktur auch unabhängig von den Produkten, mit denen er handelt, zuerst einfach sich selbst erhalten will. Dies gilt auch für den Kunstmarkt, dem es letztlich egal sein kann, womit er handelt. Sein System ist so gebaut, dass er nicht mit Kunstwerken handelt, sondern alle Dinge die er handelt zu Kunstwerken erklärt, ja zur Kunst erklären muss, weil er doch ein Kunstmarkt ist. Dieses Verhalten ist kein Fehler des Marktes, sondern die instinktive Konsequenz eines natürlichen Gebildes, das mit seinen Reflexen und Instinkten zunächst selber zu Überleben trachtet. Unschuldig wie ein Tier nimmt der Markt seine Aufgabe wahr, die ihm übertragen wurde. Das System besitzt keine Möglichkeiten über sich zu reflektieren.

Eine Gesellschaft kann nie gerecht sein. Sie verwaltet nach Gesetz, Normen und Wahrscheinlichkeiten, die über den Einzelfall jedes einzelnen Bewohners gestellt sind. Jede Form der Gesellschaft besitzt faschistoide Anlagen. Sie äussern sich dann, wenn sich der Mensch diesem Tier der Normen unterwirft, von ihm nur Befehle entgegennimmt und ausführt. Wenn die Gesellschaft dennoch nicht faschistoid wird, verdankt sie es einzelnen Menschen, die die Verbindlichkeit ihrer Gesetze aufheben. Im System der Demokratie ist diese Möglichkeit schon wieder ins System eingebaut in Form der Legislative, die neues Recht und neues Gesetz schafft, allerdings ohne das Gesetz je aufzuheben. Der institutionalisierte Durchbruch zur Erneuerung des Gesetzes einer Gesellschaft geht aber nie vom System aus, - die Erneuerung des Gesetzte ist ja ihrerseits schon wieder Gesetz -, sondern geht immer nur von einem einzelnen Menschen aus, dessen Annahme, was gerecht sei, dem Gesetz widerspricht. Dieser persönliche Konflikt ist der Quellpunkt zur Verbesserung einer Gesellschaft, die nie gut und eigentlich nicht einmal besser werden kann, aber vielleicht einfach zeitgemässer in ihrer Ungerechtigkeit.

"Weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen."

Unsere Aufgabe heisst nicht, dass da eine klare Forderung bestünde, die man nach Pflichtenheft und Organigramm erledigen, absolvieren kann. Von der Vollkommenheit wissen wir doch nichts. Die Ahnung der eigenen Unvollkommenheit könnte ein Hinweis sein darauf, dass die Vollkommenheit in uns da ist, und uns anspricht. Diese Aufgabe ist keine Anforderung, weil sie zugleich Freiheit bedeutet. Und diese Unsere Aufgabe ist damit zugleich Freiheit ohne Voraussetzung und Bedingung sie anzunehmen. Die geschichtliche Betrachtungsweise des Menschen, stellt ihn an den Ort seiner Würde, weil man ihn auf die Möglichkeiten seiner Wandlung hin betrachtet. Ein Mörder kann ein guter Mensch werden, allerdings einer, der auch ein Mörder war. Aber auch: Ein guter Mensch kann zum Mörder werden. Würde meint immer: Möglichkeit zur Wandlung zum Guten. Letztlich aber auch im Sinne Kierkegaards: Rechtens vor Gott.

Der Geist ist die Kraft, jedes Zeitliche ideal aufzufassen. Er ist idealer Art, die Dinge in ihrer äusseren Gestalt sind es nicht.

Der Geist muss die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln. Was einst Jubel und Jammer war, muss nun Erkenntnis werden, wie eigentlich auch im Leben des Einzelnen. J.Burckhardt, Unsere Aufgabe, weltgeschichtliche Betrachtungen. Seite 51.